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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Autoren: Gabriele Goettle
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untersucht hat als einen Effekt des Klinischen Blicks – im Endeffekt bewirkt, daß wir dieses Objekt, das sie uns als ›unseren Körper‹ vorexerziert, für Natur, für die Natur unseres Körpers halten. Die Biologie erscheint als Natur. Aber es gibt ja keine Natur in dem Sinne, die Natur selber ist historisch. Und in dem Moment, wo man das feststellt und sich vergegenwärtigt, daß die Medizin erst im 19. Jahrhundert zu einer Instanz wurde, die epistemologisch und institutionell nun die Macht hatte, die Gesellschaft mit einem ›Körper‹ zu beliefern, muß man sich fragen: Was sind eigentlich die sozialen Instanzen, aus denen die körperliche Wahrnehmung entsteht?
    Das führt natürlich auch zur Frage nach den Schichten der Gewalt in der Re-Definition der Person in Bezug auf ihren Körper. Ich meine, daß hier auch eine Kritik an Foucault notwenig ist, weil er nämlich in Bezug auf die Gewaltsamkeit der Re-Definition zwar die Machthierarchien der Medizin über den Kranken ausführlich untersucht hat; er hat aber nicht verstanden, daß das, was das Leibliche tut und macht, durch eine fremde Instanz definiert wird. Das Körperliche im 17. und 18. Jahrhundert aber tat etwas, wofür es noch keine zentrale Instanz gab, die dem Menschen sagte: Das bist du ! Das ist dein körper . Den kannst du als ein Objekt zur Medizin tragen, und sie geben ihn dir zurück als ein Objekt, das du dir wieder aneignen kannst als Besitz. Ein solcher Körper war einfach unvorstellbar. Die Somatik ist noch eingesponnen im Gewebe der Kultur, also in den sozialen Erfahrungen, in den Alltagspraktiken. Dadurch entfaltet sie sich, erwächst und ist stimmig. Wir müssen natürlich beachten, das ist die Somatik, das Körperliche in der Geschichte des Westens, das ist nicht global. Und bei uns hat die Medizin den Körper immer mehr von uns isoliert, die Organe voneinander isoliert, die Funktionen … Und es kam der ›Anatomische Atlas‹, die Physiologie als Leitwissenschaft, und es ging immer tiefer ins Gewebe, in die Zellen, in die Zellkerne usw. In eine Unterteilung in immer kleinere Einheiten. Man kann sagen, daß die Medizin also nicht einen Körper behandelt – im Wort-sinne –, sondern einen Körper herstellt. Und das Interessante ist, daß dieser Körper, den die Medizin herstellt – Focault würde sagen, der Körper als Effekt aus Beobachtungen, Praktiken, technischer Herstellung –, der verdankt sich nicht einer Vielzahl von Entdeckungen, sondern einer Vielzahl von Effekten dieser Beobachtungspraxis und deren Zuschreibung.
    Es ist unzweifelhaft, daß da etwas auf der Strecke bleibt, daß das eine Veränderung im Selbstbewußtsein anrichtet, einen Bruch in das Innere hineingibt. Man könnte das mit dem Begriff der ›Schizo-aisthesis‹ fassen, also der Trennung von der sinnengeleiteten Empfindung, und zwar nicht im Kopf, sondern im Fleisch. Als Kind hast du noch gehört vom reinen Herzen, vom guten Herzen, in dem sich was regt zugunsten anderer, das groß sein soll usw. Dann hast du aber gelernt, daß du ein Herz verkörperst, das empfindungsunfähig ist, das nur ein Organ ist zur Umwälzung des Blutes, das einen bestimmten, meßbaren Schlag hat usw. Also, dieses anatomische Herz ist ja dumm, es erkennt nichts und tut nur seinen Dienst, bestenfalls. Also, ich kann von mir selber nur sagen, daß ich eine ›herzliche Wahrnehmung‹ sehr wohl kenne und spüren kann, daß damit durchaus etwas Somatisches verbunden ist, wenn ich etwas im ›Herzen verspüre‹, ein Sehnen, ein Lieben, einen Trennungsschmerz. Also, Empfindungen oder Schmerzen, die keinen Platz haben in einem anatomischen Herzen, die aber unzweifelhaft real und wahr sind. Du kannst natürlich sagen, daß das die Tiefenschicht eines Erfahrungsstoffes ist, in dem die Umgangssprache nach wie vor ein Bild transportiert, das sofort zu uneigentlicher Rede, zu poetischer Rede wird, in dem die somatischen Anteile aber irgendwie immer noch da sind. Wesentlich ist aber der Bruch, der in unsere Wahrnehmung hineingesenkt wurde, nämlich zwischen etwas, das du sinnlich wahrnehmend ›weißt‹ – sonst könnten wir niemanden liebhaben oder auch hassen –, und dem, was du auf der anderen Seite zu verkörpern hast, für wahr halten mußt, weil die Gültigkeit dieser Wahrheit nicht bezweifelt werden kann. So daß du eigentlich gezwungen bist, in dir zu sein und andererseits dich selber dauernd wahrzunehmen, als wenn du außer dir bist. Erfahrungen, die dieses
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