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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Autoren: Gabriele Goettle
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selbstwahrnehmende Ich mal gemacht hat, sind kaum noch nachvollziehbar, wir wissen nicht mehr, wie sich das anfühlt, wenn der Körper noch nicht abgespalten ist.
    Man kann sagen, das ist die große Geschichte der Entkörperung des Menschen, weil sie durch die Macht der Wissenschaft – also durch das, was die Wissenschaft ihnen als ihren Körper gegenüberstellt und zur Verinnerlichung anbietet – ihren eigenen Sinnen nicht mehr trauen können. Und es kam ja noch schlimmer; wir sprechen jetzt immer von einer Zeit, in der noch die Pathologie das Butterbrot der Medizin war, wer krank wurde, ließ seinen Körper behandeln. Und da hat die Medizin des 20. Jahrhunderts ja manches … Gut, man ist hingegangen, weil einem was fehlte. Heute gehen die Leute hin, weil sie Angst haben, es könnte ihnen zukünftig etwas passieren. Ich finde es sehr wichtig, hier klarzumachen, daß dieser Körper, den Foucault beschrieben hat in den 60er Jahren, also der medikalisierte Körper und der dazugehörige klinische Blick, daß der seit den 70er Jahren eigentlich verblaßt oder nur noch den Hintergrund bildet für eine viel grundsätzlichere Erfassung: die durch ein umfassendes Gesundheitssystem. Die Medizin ist nun als eine Instanz zuständig, und zwar ununterbrochen. Der Unterschied zwischen gesund und krank ist abgeschliffen, das Somatische interessiert nicht. Die Gesundheitswissenschaft, die ja auf Statistik basiert – statistische Epidemologie ist zur Leitwissenschaft aufgestiegen –, errechnet Krankheit. Die Medizin behandelt nicht mehr, sie sagt voraus.
    Du wirst nicht im Körperlichen wahrgenommen, sondern als statistischer Fall innerhalb einer statistischen Population. Sicher, diese Vorsorgeorgien sind aus der Perspektive der Gesundheitsverwaltung ökonomisch rational, für die einzelne Person aber ist das total irrational. Und es ist zutiefst beunruhigend und bedrohlich, weil die Menschen lernen sollen, daß ihnen schon was fehlt oder als ›krank‹ bereits angelegt ist, als Gendefekt, was sich später dann zeigen könnte . Du erfährst, du gehörst irgendeiner Gruppe an und trägst deshalb ein erhöhtes Risiko, statistisch errechnet. Und in vorauseilendem Gehorsam sollst du dieses dein Risiko verantwortlich ›managen‹, um es zu minimieren. Es entsteht ein ununterbrochener schleichender Verdacht gegen dich selbst. Da wird jeder zum Hypochonder. Unkontrolliertes Wohlbefinden wirkt leichtfertig, gradezu asozial. So kommt der Wurm ins Wohlbefinden!
    Also Prävention in Bezug auf Fette, Herz-Kreislauf-Geschichten, Osteoporose, Brust- und Prostatakarzinom usw. ist heute gängig und gesellschaftlich vollkommen akzeptiert. Interessant ist, daß es der Frauenkörper war, der als Symbol diente – oder besser gesagt als Trojanisches Pferd –, um das sozial akzeptabel zu machen. Sie haben die Notwendigkeit dieser erforderlichen Selbstverwandlung als Erste vollzogen. Die Durchsetzung des Risikobegriffs in der Praxis gesundheitlicher Vorsorge wurde an Frauen durchexerziert in den vergangenen dreißig Jahren. Zuerst in der Geburt, historisch gesehen. Mitte der 60er Jahre schon wurde der Mutterpaß eingeführt, also etwas vollkommen Wahnsinniges! Weil die Frauen das ablehnten, hat es Geld gegeben, aber nur, wenn die Frauen das volle Programm durchliefen und das per Paß nachweisen konnten. In den 70er Jahren kam dann die Hormonsteuerung, die Pille für die Empfängnisverhütung und dann die Hormonsteuerung im Alter. Heute kann eine Schwangerschaft nur noch durchlaufen werden, wenn ununterbrochen Checks durchgeführt werden. Fünfzig bis sechzig Momente müssen dauernd überprüft werden, das sind die Indikatoren, die dann eine ›Normalität‹ herstellen. Moderne bildgebende Verfahren der Visualisierungstechnologie zeigen der Schwangeren ihr Ungeborenes in scheinbar getreuer Abbildung, ein Kind, transformiert in eine Datenmasse, die beliebig zerlegbar ist. Wie kann sie diese Datenmasse liebhaben, erwarten, noch guter Hoffnung sein? Die Frau betrachtet es aber als ihr Kind und hat sich zur Managerin ihrer Schwangerschaft machen lassen, die mit selektierendem Blick aufs genetische Risiko achtet und es gegebenenfalls durch Abbruch vermeidet. Das ist soziale Pflicht. Und auf diese Schwangerschaft folgt dann die durchprogrammierte Geburt. Im Supermarkt der Entbindungen kann die Frau, selbstbestimmt und frei, wählen, wann sie entbindet und wie, bis hin zur Wunschsectio, zum Kaiserschnitt. Die Frau muß nicht mehr entbinden,
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