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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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sah ihn nur an. Empfing ihn, wie einen nur das Meer empfangen
    kann. Du spielst keine Rolle. Das tut gut. Es gibt dich nicht.
    Das hilft.
    Den Anruf am nächsten Tag zu wiederholen wagte er
    nicht. Aber es gelang ihm, in Port of Spain das Tourist Office anzurufen. Madelon Pierpoint? Nein. Jemand, der so heißt, arbeitet hier nicht. Danke. Wieder die Atemknappheit. Plus Schweißausbruch diesmal. Er mußte aus dem Haus. Er ging,
    rannte fast, nur weg von Anna. Er konnte sich ihr jetzt nicht
    mehr aussetzen. In ihm stürmten San‐Francisco‐Berkeley‐
    und Chapel‐Hill‐Bilder durcheinander. Er konnte sich dieses
    Ende nicht gefallen lassen. Vielleicht war er drüben sogar nötig. Beate‐Juliette‐Themire! Er könnte jetzt zusagen für immer. Es war durchgespielt. Eine bestimmtere Bestimmtheit
    gab es nie. Sie, einmal am Telephon: Sie habe die ganze Nacht nicht geschlafen vor Wollen und Nichtdürfen. Er
    mußte hinüber. Die Dollars waren noch nicht zurückge‐
    wechselt. Bravo! Bravo! Bravo! Anna brachte sich durch. Die
    Töchter brachten sich beziehungsweise ihre Männer durch.
    Er wird sich durchbringen zusammen mit ihr. Sie wird ihre
    Diss schreiben. Er kann helfen. Mach mich zu deiner Frau, dann schürft mich Lizardʹs Lächeln nicht mehr. Hatte sie 241
    gesagt. In einem der drei Zimmer, in denen sie waren.
    Sobald die Diss durch ist, beginnt das Leben, von dem sie in
    ihren drei Zimmern geredet haben. Nächtelang haben sie
    geredet. Die Diss geschmissen, auf die Diss geschissen. Das wird widerrufen. Was kann sie getan haben? Wo kann sie
    sein? Nie mehr. Hat sie gesagt. Hat es sich versprochen. Das
    heißt, er kann sich ihr in den Weg werfen. Wohin kann sie in
    aller Panik geflohen sein? Mr. Hardy anrufen? Niemals.
    Professor Rosenne? Niemals. Er muß hinüber. In der Ab‐
    teilung wird sie hinterlassen haben, wo sie ist. Sie hat doch noch ihre Klasse. Er muß hin. Sie ist zu einer Freundin. Nein,
    sie ist bei diesem Jeffrey, dem Ängstlichen, der feudal wohnt,
    dem sie die Asche seines Vaters auf dem Green ausgestreut
    hat. Der hat sie aufgenommen. Wahrscheinlich sogar keusch.
    Aber einen Nachnamen hat sie nie gesagt.
    So rannte Gottlieb durch die Wälder. Saß dann vor Anna.
    Verfluchte die Evolution, die aus jedem einen Geheimnis‐
    träger macht. Dieser Menschenpfusch. Da hockt man vor ein‐
    ander und keiner sieht in den anderen hinein. Read my
    mind, please. Anna, siehst du nicht, daß ich ununterbrochen,
    so gut wie ununterbrochen, nur an Beate denken kann. Sie beherrscht mich. Anna.
    Aber da er ihr nicht sagen konnte, wie es in ihm zuging, und da sie nicht in ihn hineinsehen konnte, saßen sie einander gegenüber, stumm, leidend. Allein jeder, aber zu‐
    sammen für immer. War das das Gesetz? Oder das Leben?
    Ihr Leben? Kein Tier würde sich mit einer so miesen Kommunikation abfinden. Ein Tier würde aussterben oder sich
    entwickeln. Annas Augen zeigten weder Geduld noch Unge‐
    duld. Annas Augen sind das Höchstmögliche. Aber diese

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    Augen sahen nichts, das waren Augen zum Angeschaut‐
    werden, nicht zum Schauen. Oder wußte, fühlte, merkte, sah
    sie alles und wartete auf eine alles überschwemmende
    Wörterflut? Menschenpfusch, Oder war nur er verpfuscht
    und alle anderen waren fein heraus, lebten mit einander in vollkommener Offenheit und erledigten jede allenfalls auf-tauchende, sich bilden wollende Störung durch glimpfliches
    Verbalisieren? Die Bibel, Denn der Mensch sieht auf das, was vor Augen ist, beutet diesen Evolutionspfusch schamlos aus.
    1. Samuel 16: Der HERR sieht auf das Herz.
    Seit er wußte, daß er wieder hinüber mußte, seit sich die Themire‐Tag‐und‐Nachtbilder in ihm schärften und ihm
    seine Lebensversäumnisse vorexerzierten, wollte er Anna
    etwas melden, was er in Amerika in der Zeitung gelesen
    hatte. Eine Liebesgeschichte. Die reinste Liebesgeschichte
    überhaupt. Eine Begebenheit, die alle erfundenen und pas‐
    sierten Liebesbegebenheiten übertraf. Übertraf an Liebe. Eine
    May Hyatt lag seit sechs Jahren bewußtlos im Pflegeheim.
    Der Verwaltungsangestellte Mr. Hyatt besuchte seine Frau
    zweimal in der Woche. Bei einem solchen Besuch erschoß er
    seine Frau mit einer Pistole, danach tötete er sich durch einen
    Kopfschuß. Was würde Anna dazu sagen? Könnte sie das,
    wie er, für die reine Liebe halten? Und wo ist das Denkmal für John und May Hyatt? Es müßte das höchste‐schönste-innigste Denkmal der Welt sein. Das Denkmal für den
    einzigen
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