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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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Ungute,
    zurückzuführen auf den Mangel an freier Freude am
    Geschlechtlichen.
    Das Telephon läutete. Verwählt. Gottlieb fluchte laut. Es hätte Beate sein können. Dann: Verwählt! Sich zu verwählen

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    gehörte verboten. Was fiel den Leuten ein, sich zu
    verwählen. Das hätte doch wirklich Beate sein können! Sie hätte, wie vor Monaten, gesagt: 98 Grad und eine Luft aus feuchten Schwaden. Dann hätte er gefragt: Was trägt man?
    Und sie: Ein blaues Laken. Er hätte geseufzt, also hätte sie gesagt: Das Laken ist erfunden. Sie sei nackt und einigermaßen bedürftig, schamlos nackt zu sein. Er darauf: Und das
    in einem Zeitalter ohne Bildtelephon. Spätere Zeiten wüßten
    überhaupt nicht, was das für ein Askesemurks gewesen sei,
    leben, lieben, ohne Bildtelephon. Sie: Andererseits könnte ihn das doch sprachlich beflügeln. Er gab ihr recht und beflügelte sich. Und durfte nicht anrufen. Vierzehn Tage und
    Nächte lang. In der Hoffnung, sie rufe an oder seine Bedürf‐
    tigkeit lasse nach. Am meisten leide sie, hatte sie einmal am
    Telephon gesagt, an der Ungleichzeitigkeit. Bei ihm ist es Nacht, bei ihr überhaupt nicht. Das tat ihr weh. Stell dir vor,
    unsere Sinne, unser La Mettrie, und dann sechs Stunden
    Differenz! Er hätte sie am liebsten aus dem Hörer gesogen.
    Jetzt spürte er, daß er jeden Halt verlieren würde, wenn er nicht bald gegensteuerte. Aber wo und wann war der letzte
    feste Punkt gewesen, von dem aus er noch hätte gegen‐
    steuern können? Es war ein Daraufzutreiben, keine Gegen‐
    steuerung möglich. Der Grad der Unbeeinflußbarkeit ist
    erreicht. Das Alter ist das Gegenteil der Verfeinerung, die einem abverlangt wird. Ruchlos. So fühlt er sich. Endlich. Er
    wird den Anruf des Lebens nicht ein zweites Mal
    versäumen. In Amerika muß er taub gewesen sein. Er hatte den letzten Zug versäumt. Wo sollte er jetzt die Nacht
    verbringen. Je weniger Leben dir zusteht, desto heftiger reißt
    du es an dich. Das ist das Gesetz. Des Lebens.

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    So lag er dann wieder neben Anna im vertrauten Dunkel
    und fühlte das geträumte Unding wachsen, spürte eine
    offenbar nicht enden wollende Festigung und rührte sich
    nicht. Welchen Heiligen ruft man an, daß er Anna hindere, herüberzulangen! Er durfte mit Anna nichts zu tun haben. Er
    hatte das Gefühl, ihm werde ein Streich gespielt. Von seinem
    geträumten Unding. Und Beate hatte in der ersten Stunde
    auf der Terrasse Anna gefragt: Wie ist das, mit diesem Mann
    verheiratet zu sein. Und Anna, künstlich munter: Es geht.
    Drüben hatte er, als sie beide den armseligen Wortschatz schmähten, der ihnen vererbt worden war, gefragt, ob sieʹs joggen nennen sollten. Dadurch waren sie immerhin auf
    ficken gekommen. Eines wußte er jetzt von Tag zu Tag
    sicherer: Er würde sich in dem, was er selber als seine Unzurechnungsfähigkeit zu begreifen begann, nicht irri-tieren lassen. Wenn er alles falsch sah, dann war es sein gutes
    Recht, alles falsch zu sehen; wenn er verloren war, dann wollte er verloren sein. Dürfen. Es wird keine abschwä‐
    chende Überlegung mehr zugelassen. Er machte sich nichts
    vor. Er fühlte, er war lebenswütig, aufbruchstoll. Er mußte Anna ein weiteres Mal entwirklichen. Read my mind, dear
    Anna. Sagen konnte er nichts von dem, was jetzt in ihm tobte
    und schwoll. Anna hatte ihm beigebracht, daß er nackt keine
    Rolle mehr spielte, außer bei ihr. Aber Themire hatte ihn am
    Telephon Du genannt und hatte das Du sofort zweisilbig
    gemacht. Und hatte das in den drei Zimmern, in denen sie waren, beibehalten, obwohl sie sah, wie er aussah. In der dritten Nacht hatte sie die gemeinsame Zukunft entworfen.
    Wir können nicht warten, dazu bist du nicht jung genug.
    Wenn du jünger wärst, könnten wir Zeit vertun.

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    Daß er jetzt nicht dort war, tat weher als alles, was der Körper leiden kann. Aber es ist ein Schmerz, dem man, im Gegensatz zum Körperschmerz, nicht so schnell wie möglich
    entfliehen will. Man will ihn hegen, wachsen lassen, daß man durch ihn zu Handlungen fähig werde, zu Handlungen
    sich berechtigt fühle, die man ohne diesen Schmerz sich nicht
    zutrauen dürfte. Er würde anrufen, sagen, daß sein Davon-rennen sich verheerend ausgewirkt habe, er müsse zurück.
    Sich nichts mehr befehlen, das warʹs. Endlich Schluß mit dieser Hinkrümmung an das Verlangbare. Du kannst nicht
    erwarten, daß irgend jemand der Stimmung entspricht, in
    der du leben mußt. Wenn du aufwachst, und es tut dir
    überhaupt
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