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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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rennend aufzufallen − hier rannte doch längst
    niemand mehr −, gehen konnte, zurück zur Bushaltestelle.
    Zwanzig Minuten warten. Was ihm da alles vorgeführt
    werden würde! Er ging und, als er die Innenstadt hinter sich
    hatte, rannte eher als er ging nach Hause.
    Sein Schreibtischstuhl war sein Asyl. Saß und blieb sitzen.
    Die tägliche Versuchung, sitzen zu bleiben, in die Ecke zu starren, sich nicht mehr zu rühren. Darauf reagierte er
    gewöhnlich, eingeübt, mit der abstrakten Anstrengung, noch
    einmal, noch ein einziges Mal aufzustehen, ohne Grund.
    Dafür, sitzen zu bleiben und zu starren, gab es eine Wucht von Gründen, die in eine einzige Schwere münden. Die
    Schwere will den Ausschlag geben. Es tut weh, ihr Gebot zurückzuweisen.
    Heute
    keine
    abstrakte,
    grundlose
    Aufstehbewegung. Heute blieb er sitzen. Er hatte nicht
    umgetauscht. Die Dollars waren gerettet. Vor ihm das Telephon. Er konnte in jeder Sekunde Chapel Hill anrufen.
    Vierzehn Tage Wartefrist. Sich so etwas zu befehlen! Er sollte
    sich lieber befehlen, sofort aufzustehen, in die Stadt zu rennen, und mitten in der Stadt sollte er zum Erstaunen der
    Leute anfangen zu reden. Laut. Überlaut. Je lauter er redete,
    desto glaubhafter würde er sein. Schreien mußte er, dann war er glaubhaft. Glaubwürdig. Aber bitte, das Wichtigste, Dr. Matusaka: Einen Ton tiefer! Vielleicht würden ihn in den
    ersten Sekunden ein paar für übergeschnappt halten. Stehen
    bleiben würden ein paar. Die Leute bleiben ja überall stehen,
    wo etwas ihren Alltag ritzt. Leute, würde er rufen, glaubt keinem, der aus Erfahrung über das Altwerden und über das
    Altsein spricht. Er lügt. Keiner kann über das Altwerden und
    über das Altsein die Wahrheit sagen. Jeder würde sich

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    genieren, etwas so Ekelhaftes, Erbärmliches in den Mund zu
    nehmen. Glaubt keinem! Auch ihm nicht! Und würde an
    seine Kopfwarze am Haaransatz greifen, und die würde
    bluten, und er würde den Leuten seine blutigen Finger
    hinhalten. Dann würde er sich umdrehen und unaufhaltbar
    gehen. Und würde an Gottes Kapitän mit der schief sitzenden Mütze denken, der bis zum nächsten Mittwoch 780 000
    Dollar gebraucht und gekriegt hatte. In Gottes eigenem
    Land. Dahin wollte er. Und Paul Schatz wartet, erwartet, daß
    die vierte Frau stirbt, steht auf, fällt um, ist tot. Na ja. Da mußte man doch an den Allerweltsspruch des begnadeten
    Maklers denken, mit dem er jedem Interessenten den
    Hauskauf förmlich befohlen hatte: Man lebt bloß einmal.
    Echt Schatz, stirbt nicht im Bett, will nicht, darf nicht im Bett gestorben sein, steht noch ganz schnell auf, daß er dann tot umfallen kann. Am liebsten hätte sich Gottlieb über die
    Todesnachricht gefreut. Aber das darf man ja nicht. Du bist durch und durch zahm. Gesteh dir doch endlich, daß dich Schlimmes freut. Negatives. Nur noch Negatives, Beleidigendes, Herabsetzendes, Bösartiges, Vernichtendes. Dein
    Kreislauf, die Säfte, sobald du dich etwas Wüstem hingibst, löst sich in dir etwas Verkrampftes, Hartes. Endlich begriff er, warum Bösartiges so beliebt ist: Sobald er auf etwas Lobendes, gar Preisendes stieß, konnte er nicht weiterlesen, sein Magen drehte sich um, wenn er las, daß jemand noch etwas gut fand. Und konnte das lobende Zeug doch nicht
    einfach weit von sich werfen. Er mußte weiterlesen, obwohl
    es ihm von Satz zu Satz schlechter ging, aber aufhören
    konnte er erst, wenn er sich dem Ersticken nahe fühlte, dann
    erst konnte er die Lobhudelei fallen lassen, zum Fenster 237
    rennen, das Fenster aufreißen, eine ungemessene Zeit lang am offenen Fenster stehen, fähig nur noch zu einem einzigen
    Gedanken: Ich bin froh, in einer Zeit zu leben, in der es noch
    Fenster gibt, die man öffnen kann. Da er aber so positiv nicht
    enden konnte, mußte er weiterdenken: Bald wird es nur noch
    Fenster geben, die man nicht mehr öffnen kann. Und warum
    freute ihn das nicht, daß alles immer schlimmer wird? Er müßte sich doch wohlfühlen, wenn alles immer schlimmer
    würde. Fühlte er sich wohl? Jetzt verhör dich doch nicht so,
    bloß, weil der Schatz tot umgefallen ist. Mensch, Gottlieb.

    3.

    Sieben solche Tage und Nächte hatte Gottlieb hinter sich. Am
    achten seiner vierzehn Tage konnte Gottlieb, als er auf‐
    wachte, die Augen nicht öffnen. Alles, was er sehen würde, würde weh tun. Das wußte er. Nichts mehr sehen, bitte. Nie
    mehr. Das Leben ist eine offene Wunde. Gerade hatte er noch
    geträumt, er liege auf einem Platz
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