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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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Inspektor der Schlüssel. Er schaut Anna an und sagt: Erlebnisgestützt. Anna nickt. Jetzt weiß der Inspektor und kann es beweisen, daß Gottlieb es war. Anna hatte von allem
    keine Ahnung. Von Beate hatte er erfahren, daß ihr Vater Frauen gern tough broads nenne. Überhaupt liebe er das
    Amerikanische nur, weil er da deftig bis dreckig daherreden
    könne, ohne sich genieren zu müssen. Sobald Gottlieb nicht aufpaßte, dachte er an Beate. Und wenn er aufpaßte, dachte
    er erst recht an sie. Ihre hymnische Stimmung. Anders war das doch gar nicht zu nennen. Sie hatte gelitten, solange er nicht da gewesen war, und als er da war, war sie
    ununterbrochen hymnisch. Er ist ihr nie auf ihrem Niveau begegnet. Er hat sie versäumt. Er hat das Leben versäumt. Er
    muß hin. Zu ihr. Er kann sich nicht abhalten lassen, das spürt
    er. Um sich schlagen. Rücksichtslos sein. Endlich einmal
    rücksichtslos sein. Er will nicht mehr nicht in Frage kommen.
    Schon am Morgen nach der ersten Nacht hatte sie ihn
    gefragt, warum er die Schuhe immer im Stehen anziehe. Auf
    dem rechten Fuß stehend, um den linken Schuh anzuziehen
    und so weiter. Und er hatte geprahlt, daß es ein Rabbi so 228
    gemacht habe und, gefragt, warum, habe er gesagt, solange jemand auf einem Fuß stehend seine Schuhe anziehen könne,
    sei er jung. Und eine belebende Nachricht war doch, daß sie
    sich vom ersten Terrassenaugenblick an zu ihm hingezogen
    gefühlt habe, weil er nicht siegessicher aufgetreten sei. So hatte sie in ihm ein altes Leiden beendet. Er hatte ein Erwachsenenleben lang darunter zu leiden gehabt, daß er
    kein toller Mann war. Sein Erzkonkurrent Paul Schatz war ein toller Mann gewesen, das hat auch Anna immer gesagt.
    Und Gottlieb hat es nie bestritten. Wo er hingekommen war,
    hatte er Paul Schatz als tollen Mann gerühmt. Immer so sehr,
    daß er hoffen konnte, jemand in der Runde werde jetzt
    sagen: Sie übertreiben. Das war so gut wie nie vorgekommen. Und dann kommt dieses übermäßige Mädchen und
    fühlt sich hingezogen zu ihm, weil er kein toller Mann ist!
    Und er, der Lebensidiot schlechthin, will ihr vom dritten Tag
    an im Flughafenhotel, als sie nichts als lieben wollte,
    beibringen, weniger zu empfinden, fängt an, umzudeuteln,
    jede Angewiesenheit auf einen anderen Menschen sei eine
    Form der Freiheitsberaubung. So leblos hat er sein können.
    Um nicht wieder etwas falsch zu machen, ließ er jetzt Anna‐
    Situationen ablaufen. Ziel: Anna‐Entwirklichung. Eine
    Mache, daß er hier ohne remords wegkommt? Ist Anna nicht
    wirklich lebensabgewandt? Wie oft hat er sich ihr genähert, weil er eine Handbewegung mißverstanden hatte, und war
    dann durch und durch erbittert, weil er zu spät gemerkt hatte, daß diese Handbewegung überhaupt keine Einladung,
    kein Wunsch, kein Sehnsuchtssignal gewesen war, sondern
    Geste irgend eines Routinerepertoires. Und wenn er sie
    dann, fehlgeleitet von Anfang an, verführte, wurde peinlich 229
    deutlich, daß sie eine Freundlichkeitsleistung ihm zuliebe erbrachte. Sie hatte geglaubt, er brauche sie dringend, da wollte sie nicht so sein, nicht so verschränkt oder gar abweisend, sondern durchaus mitmachend. Eine Frau eben,
    die ihren Mann, den sie kennt, bedient wie der Friseur einen
    alten Kunden. Anna will es doch überhaupt nicht, sie will nur, daß du es willst. Das Eheverhältnis schlechthin. Anna noch die bestmögliche Frau. Aber auch die Bestmögliche
    lahmt dann. Die Währung, in der bezahlt wird, heißt dann Lüge. Gottlieb spürte eine alles ergreifende Erbitterung
    wachsen. Geschlechtsverkehr! Ein solches Wort serviert
    einem diese sogenannte Kultur. Für das Höchste, wozu man
    im Stande ist, für die Handlung, die einen so zu sich selber kommen läßt wie keine andere, dienen sie einem ein Wort an, das in einer Behörde konstruiert worden sein muß. Den Beamten ist kein Vorwurf zu machen. Die konnten ja nicht wissen, daß das Wort über den Gesetztext hinaus verwendet
    werden würde, weil die Menschen, sittlich eingeschüchtert, zu keinem Ausdruck, zu keinem Wort finden würden, das
    von dem Vorgang zu zeugen vermöchte. Funktionäre der
    Fortpflanzung a. D. So sah er sich und Anna alltäglich. Er selber ein kleiner braver Beamter im Geschlechtsdienst,
    immer gründlich in Vorbereitung und Ausführung. Einmal
    hat er denken müssen, daß Anna plötzlich lachen könnte
    und daß er sie dann töten müßte. Gottlieb war bereit, allen Trübsinn, alle Weltverneinung, überhaupt alles
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