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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt
Autoren: Carol Birch
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die Scheibe sehen, ein nettes, freundliches Mädchen mit Mehlstaub auf den Wimpern. Dann kam er wieder herausspaziert, sah zum Himmel hoch, reichte mir die Himbeertasche, die in eine kleine Serviette eingeschlagen
war, damit meine Finger sauber blieben. Nicht, dass sie vorher sauber gewesen wären.
    Und dann stand er da, die Hände in den Taschen, und sah mir zu, wie ich die Himbeertasche aß. Der erste Bissen war so entsetzlich süß, dass mir der Mund wehtat. So wunderbar, dass meine Augen von Tränen brannten. Dann verschwand der Schmerz, und da war nur noch Wonne. Ich hatte noch nie Himbeeren geschmeckt. Noch nie Sahne geschmeckt. Der zweite Bissen war gierig und verfressen und verstopfte mir den Mund. Der Junge hatte Augen wie eine Statue. Rührte sich nicht. Wahrscheinlich hatte er selbst noch nie eine Himbeertasche gegessen. Er war besser angezogen als ich, trug Schuhe und alles, aber trotzdem hatte er garantiert noch nie im Leben eine Himbeertasche gegessen.
    »Mal probieren?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf und machte wieder diese abwehrende Geste mit dem Arm, stolz und mit einem leichten Lächeln. 
     
    Der Geruch war das Erste, was mir entgegenschlug, ein guter, aufregender Geruch, stärker als Käse. Dann der Lärm. Man kam von der Straße in einen Vorraum, wo Jacken hingen und Kisten und große Säcke lagerten, und ein grüner Papagei beugte sich zu mir herunter und starrte mir ins Gesicht. Er sah aus, als wüsste er etwas sehr Lustiges.
    »Der kann sprechen«, sagte der Junge. »Los, Flo, sag ›fünf Pfund, Schätzchen‹.«
    Flo legte den Kopf schief, sah ihn durchaus liebenswürdig an, sagte aber nichts.
    Er blinzelte. Der Junge schnaufte ärgerlich und führte mich zu einer geöffneten Tür, durch die eine dunkle Rauchwolke deutlich sichtbar in die Diele quoll.
    »Da ist er, Mr Jamrach. Er hat sein Sahnedings gekriegt.«
    Ich folgte ihm in den Raum. Der große, rotgesichtige Mr Jamrach kam mit einem Lächeln aus der Düsternis und rief: »Ha! Jaffy Brown!« Er schlug mir sanft auf die Schulter. »Hast du gestern Abend gut gegessen?«
    Er beugte sich mit dem Gesicht so dicht zu mir herunter, dass ich die roten Adern im Weiß seiner Augen hätte zählen können. Die Luft war schwer: satt und faulig, vollgesogen mit dem Geruch von Eingeweiden und Blut und Pisse und Haaren, und über allem lag etwas, das ich nicht benennen konnte und das wahrscheinlich Wildheit war.
    »Hammeleintopf«, sagte ich, »der war herrlich.«
    »Hervorragend!«
    Mr Jamrach richtete sich auf und rieb die Handflächen aneinander. Er trug einen Straßenanzug, in dem er korpulent wirkte, und sein Haar war in der Mitte gescheitelt und mit Öl angeklatscht.
    »Bulter«, sagte er zu einem blassen jungen Mann, der mit mürrischem Gesicht hinter einem sehr unordentlichen Schreibtisch saß und Nägel kaute. »Hol Charlie raus.«
    Bulter hastete, lang und dünn, um den Schreibtisch herum und blieb vor einem großen Käfig stehen. Ein herrlicher, unglaublicher Vogel hockte darin und beobachtete den düsteren Raum so aufmerksam, als verfolgte er eine glänzende Aufführung. Der Vogel leuchtete in tausend Farben, und sein Schnabel war größer als sein Körper.
    »Komm raus, Charlie, du blöder Vogel«, sagte Bulter und schob den Riegel hoch.
    Charlie tanzte vor Freude. Und dann kletterte er doch tatsächlich sanft wie ein schläfriges Kätzchen in Bulters Arme und kuschelte sich mitsamt seinem harten Monsterschnabel an dessen Brust und senkte verschämt den Kopf. Bulter streichelte die schwarzen Federn am Kopf des Vogels.
    »Der ist ein bisschen blöde«, sagte er, drehte sich um und setz
te mir Charlie auf den Arm. Charlie hob den Kopf und sah mir ins Gesicht.
    »Das ist ein Tukan«, sagte Tim.
    »Du hast den Dreh raus«, sagte Bulter zu mir, »er mag dich.«
    »Der mag jeden«, behauptete Tim.
    Charlie war ein vernünftiger, gutmütiger Vogel. Das war auch Flo, der Papagei im Vorraum. Die Vögel, die danach kamen, waren es nicht.
    Mr Jamrach führte mich durch den Vorraum in die Menagerie. Der erste Raum war für die Papageien, ein fürchterlicher, kreischender Ort mit lauter wahnsinnigen Knopfaugen, purpurroten Brüsten, die an Gitterstäbe schlugen, Flügeln, die an Nachbarflügeln scheuerten, blutrot, königsblau, zigeunergelb, grasgrün. Die Vögel drängten sich auf Sitzstangen. Hier und da hingen Aras verkehrt herum und zwinkerten mit ihren weißen Augen, grüne Papageien schwirrten flatternd über unseren Köpfen. Ein
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