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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt
Autoren: Carol Birch
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sich schließlich allesamt zu einer Polka erhoben hatten, klang das Stampfen der Füße, als würde sich eine gewaltige Welle brechen.
    Die Frauen im Spoony Sailor waren nuttiger als die in der Malt Shovel, aber nicht so nuttig wie die in Paddy's Goose, wobei die Goose-Mädels allerdings bei weitem die flottesten und hübschesten waren. Ich kannte dort ein Mädchen, das nicht Hure genannt werden wollte und behauptete, sie sei eine Kurtisane. Einige von denen waren bestimmt schrecklich, aber zu mir waren all die Frauen immer nett. Ich habe erlebt, wie sie Matrosen in zehn Minuten ausrauben und den Verstörten dann einfach hinauswerfen konnten. Aber ich habe, glaube ich, keinen einzigen Matrosen erlebt, der nicht trotzdem quasi auf Knien um ihre Gunst gebettelt hätte. Die Frauen schubsten sie ziemlich herum, doch die Matrosen kamen immer wieder. Ich sah sie wie Hirsche umherwanken und dachte wieder daran, wie schön ihre Lieder nachts von jenseits der Themse herüberklingen konnten,
wenn ich in Bermondsey auf meiner Pritsche lag. Matrosen aus den entferntesten Ecken der Welt, und all die fremden Sprachen, die polterten und verschmolzen, und unsere eigene, englische dazwischen, mindestens ebenso schön.
    Ich wusste von jeher, dass ich Matrose werden würde. Ich wusste es schon, als ich noch in der Wiege mit meinen Zehen spielte. Was hätte es auch sonst geben können? Die Matrosen brachten mein Blut schon in Wallung, als ich noch nicht geboren war, denke ich heute. Als meine Mutter eines Abends mit mir im Bauch in Bermondsey am großen Fluss stand, wo es nach Scheiße stank, sangen dort drüben, am anderen Ufer, die Matrosen, und ihr Sirenensang drang an jene muschelrosafarbene Unvorstellbarkeit, die mein im Fruchtwasser frisch entstehendes horchendes Ohr war.
    Jedenfalls glaube ich das.
    Die Luft im Spoony war stickig, der Fußboden glitschig vom Rotz, der überall hingespuckt wurde. Und doch – man musste nur hochschauen zu den Dachsparren, wo der Rauch sich so elegant kringelte, während zwei Goldmädchen, angemalt wie Puppen, mit hohen Stimmen zu einem Paar schluchzender Geigen sangen. Konnte es etwas Besseres geben?
    Es war immer noch viel los in der Kneipe, als ich um Mitternacht Schluss machte und nach Hause zu Mama ging. Auf den Straßen war es voll und laut. In meiner Tasche steckte Geld. Ich kaufte einen großen Klumpen braunen Kandiszucker und lutschte auf dem ganzen Heimweg daran. Mama war noch nicht zurück, deshalb bat ich Mari-Lou, ihr auf jeden Fall zu sagen, sie soll mich pünktlich um halb sieben für meine neue Arbeit wecken. Dann ging ich ins Bett und machte, fest entschlossen, zu schlafen, die Augen zu. Aber draußen auf der Straße war so viel Lärm, und irgendwo im Haus wurde so viel gesungen, dass ich nur dösend träumen konnte. Und im Traum ging es die ganze Zeit um große, schwarze Wellen, die gegen das Fenster brandeten.
     
    »Der letzte Junge, den wir hatten, wurde von einer Boa gebissen«, sagte Tim. »Ist dann gestorben. Grausig war das, hättest du sehen sollen.«
    Das Erste, was er frühmorgens im Hof zu mir sagte. Dunkel und kalt, Nebel, der im Hals brannte.
    Tim knuffte mich und zerzauste meine pechschwarzen Locken. »Was ist das denn? Was ist das? Wir sind wohl ein kleiner Laskar? Kleiner Laskar, was?« Mama sagte, mein Vater sei ein Malteser oder Grieche gewesen, was genau, wusste sie nicht mehr, aber jedenfalls keiner dieser indischen Matrosen, die »Laskar« genannt wurden. Man wusste bei ihr aber nie genau, mal sagte sie das eine, mal etwas anderes. Doch er lächelte dabei, ein plötzliches Strahlen großer, eckiger Zähne.
    Wir warteten am Gehege. Bulter, der gleichzeitig Tierpfleger und Sekretär war, lungerte beim Tor herum, zusammen mit Cobbe, einem großen, bulligen Schrank von Mann, der den Hof und sämtliche Gehege fegte.
    »Diese Teufel«, sagte Tim, »diese Teufel haben ein elendes Temperament.«
    »Wie sehen die denn aus?«, fragte ich erneut, doch er wollte es mir nicht sagen. Sie hätten Riesenschnauzen, ließ er zwar wissen, außerdem stänken sie; aber was das überhaupt für Tiere waren, damit rückte er nicht heraus. Er genoss sein überlegenes Wissen, enthielt es mir vor wie einem Hund den Knochen. Dass die Seidenäffchen klein waren, wusste ich. Und vor einem kleinen Affen hatte ich keine Angst. Ich war zwar fest entschlossen, vor keinem dieser Wesen Angst zu haben, aber es würde helfen, wenn ich wüsste, was mich erwartete. Ein Teufel? Ein Teufel aus
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