Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
geöffnet hatte. Mit einem kleinen Schrei fuhr sie zurück, als das grimmige, schwarze Gesicht der Dohle uns entgegenflog.
    »So, das ist es also«, sagte ich stolz.
    Sie lachte. »Das ist alles deins, Jaffy. All das hier!« Und ich fühlte mich erneut unendlich schuldig, weil ich am Leben war und all dies besaß. Aber sie meinte es nicht böse. Sie lief herum und bewunderte alles, die Käfige, die Sittiche, die Papageien, den Reisfinken und meine Bilder, die jede verfügbare freie Fläche ausfüllten. »Das ist ja wirklich nett«, sagte sie die ganze Zeit, und als wir den Hof betraten, klatschte sie in die Hände. »Wie wunderschön!«, rief sie und rannte über die Kieswege und wie
der zurück. Ich hatte einen Steingarten angelegt, und überall wuchsen Glockenblumen. Die Hänflinge waren in Hochform.
    »Wie ist es da, wo du arbeitest?«, fragte ich.
    »Grauenhaft«, sagte sie. »Stinkt.« Sie stand neben mir in der Tür. »Jetzt sieh dir bloß dich an«, sagte sie, »mit dem Vogel auf der Schulter. Der passt zu deinem Haar. Was seid ihr nur für ein Paar.«
    »Erträgst du meinen Anblick?« Das hatte ich nicht sagen wollen.
    Sie wurde sehr ernst, legte mir die Hände auf die Schultern und sah mir in die Augen. »Ist es das, was du denkst?«
    »Ich weiß nicht, was ich denke.«
    Sie blickte mich weiter scharf an, und meine Augen begannen zu tränen. »Ich danke Gott jeden Tag, dass du überlebt hast«, sagte sie ganz schnell, drehte sich um und ging rasch zur Eingangstür.
    »Wohin gehst du?« Ich schoss hinter ihr her.
    »Ich muss zur Arbeit.« In der offenen Tür drehte sie sich noch einmal um. Draußen auf der Straße wurde es allmählich Abend.
    »Aber du kommst wieder?«
    »Was glaubst du denn!«, sagte sie. Sie lächelte. Dann war sie weg.
    Gegen Mitternacht kehrte sie zurück, unangemalt, wie das Mädchen, das mit uns in den Docks herumgerannt war, wie ihr Bruder. Sie ging nie mehr fort.
    17
    All dies ist schon sehr lange her.
    Rossetti und Darwin starben zwei Jahre später. Zu der Zeit verließ noch jemand die Erde, allerdings eher unbemerkt, mein guter Freund Dan Rymer, der im Alter von sechsundsiebzig Jahren an einer Geschwulst im Gehirn starb. Ein gesegnetes Alter insgesamt. Seine Witwe lebt noch in Bow. Sie hat ein zweites Mal geheiratet, und ihre beiden jüngsten Kinder leben noch bei ihr. Sie war zwanzig Jahre jünger als er.
    Mr Jamrach hat sich längst zur Ruhe gesetzt, und Albert führt das alte Unternehmen weiter, aber heutzutage kommen die wahren Vogelliebhaber zu mir, Leute aus den beiden Vereinen von Vogelfreunden, dem »Friendly« und dem »Hand in Hand«. Wenn Sie in Richtung Limehouse gehen, dann liegt unser Geschäft auf der rechten Seite. Sie können bei uns einen Sittich kaufen oder zwei Rosenköpfchen, die »Liebesvögel«, und auch einen anständigen Käfig dazu. Oder Sie spazieren durch unseren Laden, bezahlen Ihren Penny und wandern umher oder lassen sich, solange Sie Lust haben, im Vogelgarten nieder, beim Brunnen oder bei der Statue des Pan, der den ganzen Tag seine Flöte spielt, für den Buchfinken und den Dompfaff, für den Goldkarpfen im Teich und die Geißblattlaube.
    Ishbels Mutter zieht sich gern mit ihrem Strickzeug dorthin zurück. Sie wohnt jetzt bei uns. Ruhe und Frieden sagt sie; aber man hört trotzdem noch die Geräusche vom Highway. Es ist ein guter Platz, einer, den ich am späten Abend mit meiner Pfeife aufsuche. Ich schaue dann in die Sterne und lasse mich von den Wellen forttragen, höre das Brüllen des Ozeans, das Donnern am Himmel, fühle die Dünung, höre die Stimmen der Dä
monen der Tiefe, die alles übertönen mit ihrem Geheul. Auf die eine oder andere Weise, könnten Sie vermutlich sagen, habe jene Reise mich geformt. Ich wäre wohl Hilfsarbeiter und Handlanger geblieben. War das Ganze nur dafür da? Um aus mir den Mann zu machen, der ich jetzt bin? Ist Gott wahnsinnig? Läuft es darauf hinaus? Eingeklemmt zwischen einem wahnsinnigen Gott und einer erbarmungslosen Natur? Was für ein Scheißspiel.
    Ich passe nicht in die Welt der Normalen, in der die Menschen ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgehen, sich pünktlich schlafen legen, pünktlich aufstehen, pünktlich zu Abend essen. Da möchte ich nicht hingehören. Manchmal sehne ich mich nach einer Mönchszelle, einer Höhle in einem Felsen, einem Plätzchen im Wald, damit meine Gedanken in alle Richtungen strömen können, wie das Wasser, wie das Meer.
    Zeit zum Schauen. Auf den Wellen. Steigen und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher