Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
plötzlich Skips Gesicht und wusste, dass ich in der vergangenen Nacht von ihm geträumt hatte und deshalb am Morgen so seltsam zittrig aufgewacht war.
    Klar wie der helle Tag stand er da. So, wie ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, am ersten Tag auf dem Schiff. Mr Rainey
schlug ihm auf den Kopf. Ich hatte Angst vor Mr Rainey. Und schon beginnt die Geschichte in ihrer x-ten Wiederholung. Dann war ich wieder, irgendwie halb träumend, bei Jamrach, rauchte eine Zigarre und zeichnete friedlich Charlie, den Tukan, und Mr Jamrach erklärte mir, die Geschäfte liefen gut. Mr Fledge habe die Idee mit dem Drachen aufgegeben. Liebäugele jetzt mit einem Polarbären. »Lust auf einen Ausflug in die Arktis, Jaff?«, fragte Jamrach, und wir lachten beide. Der Künstler Rossetti wünsche einen Elefanten, sagte Jamrach, brauche ihn zum Putzen seiner Fenster. Aber er könne das Geld dafür nicht aufbringen und habe sich stattdessen für Eulen entschieden, Eulen, einen Lachender Hans genannten Rieseneisvogel, ein Murmeltier und einen Wombat. Das war auch der Tag, an dem er mir von den Räumlichkeiten erzählte, die Albert als Lagerhalle benutzte, inzwischen aber nicht mehr brauchte. Und er sagte, er werde mir bei der Anzahlung helfen.
    Ich hatte Geld beiseitegelegt, ich war handlungsfähig.
    Und so kam ich hierher und fuhr nicht mehr zur See. Aber das Meer ließ mich nicht in Ruhe. Es rief nach mir und klagte und träumte in mir Tag und Nacht, klopfte wie ein Herz im Hintergrund von allem, selbst wenn ich schlief, selbst als ich meine Wildnis erschuf. Ich besaß zwei Stockwerke mit einer Leiterverbindung und dahinter einen Hof. Ich wohnte oben und hatte meine Werkstatt unten. Das Erste, was ich baute, war ein runder Käfig auf acht Beinen, anderthalb Meter hoch, mit einem Kuppeldach, einem geschnitzten Adler oben auf der Spitze und einem Zickzackspalier. Innen versah ich ihn mit Zweigen und Sitzstangen und Spiegeln, mit blau gemusterten Fressnäpfen aus Porzellan, die sich rein- und rausschieben ließen, und einer herausziehbaren flachen Schale als Boden. Zehn grüne Hänflinge zogen ein und schienen zufrieden. Ich zähmte eine Dohle. Was wirklich einfach ist. Und nun raten Sie, wie ich sie nannte? Jack. Jack gewöhnte sich an, auf meiner Schulter zu sitzen, während
ich arbeitete, und an meinem Ohr zu knabbern. Ich baute einen Käfig nach dem anderen, in allen denkbaren Formen – Glocken und Rechtecke und Laternen –, keinen zu eng, und es dauerte nicht lange, da hatte ich ein kleines Unternehmen.
    Ich verkaufte die Käfige vor dem Laden und arbeitete hinten in der Werkstatt. Ich baute einen Käfig, der vollkommen kugelig war, und einen weiteren als riesigen Kürbis. Ich baute einen Schlag für Turteltauben, eine Voliere für Lerchen und Distelfinken, und den ganzen Hof überspannte ich mit Maschendraht, legte den Boden mit Torf aus und pflanzte Büsche.
    Ich wurde zu einer Art Einsiedler.
    Ich las Darwins Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation und Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte . Ich zeichnete weiter die Vögel der Welt. An den Abenden gurrten die Tauben in ihrem Schlag. Irgendwann hörte ich, dass Ishbel wieder ungebunden sei und in der Gegend von Aldgate wohne, aber unsere Pfade hatten sich seit langem nicht mehr gekreuzt. Sie war sehr weit weg, gehörte zu einem Leben, das vorbei war. Ich werde sie mal besuchen gehen, dachte ich. Aber ich tat es nicht, schmiedete nur immer neue Pläne und fand immer wieder Wege, sie nicht auszuführen. Sie wird schon kommen, wenn sie will, dachte ich. Ich und meine Vögel, wir hatten eine Art Frieden gefunden. Ich fürchtete, bei einem Wiedersehen würde all der alte Schmerz, den ich mühsam weggeschoben hatte, erneut aufbrechen. Ich würde ihr ins Gesicht blicken und ihren Bruder sehen, und die ungeheuerliche Tat, das Undenkbare, würde sich zwischen uns stellen. Wir waren inzwischen erwachsen, andere Menschen. All das war viel zu schwierig, viel zu gefährlich. Mein Hirn plagte sich mit einem Wirrwarr von Eindrücken und Mutmaßungen, brachte jedoch keine Entscheidung zustande. Der Kopf tat mir weh. Trotzdem arbeitete ich beharrlich weiter an meiner Wildnis. Denn wenn ich aufhörte, würde etwas Schreckliches passieren. Ich schleppte Steine
herbei, hackte Eier für die Nachtigallen, mischte Erbsmehl und Moossamen, Melasse und Schweinefett zu einem Brei für die Lerchen. Das Herz tat mir weh, und nachts blickte ich in den Himmel und dachte an die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher