Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
wahr? Jemand meinte mal zu mir, als Theaterstück könnte das ein Riesenerfolg werden. Stimmt wahrscheinlich.
     
    Einst am Ufer, das unsre Küste säumt
    Von Ramsgate bis nach Deal
    Da fand ich, sitzend auf einem Stein,
    Einen alten Seemann, allein.
     
    Natürlich kennen Sie seine Geschichte. Einen Seemann mit einer Geschichte findet man hier auf so gut wie jedem Stein. Die Leute von Ratcliffe Highway haben schon eine Menge gesehen. Sie haben nichts gegen mich.
    Auf einem meiner Landgänge traf ich Mrs Linver, die gerade aus dem Laden für altbackenes Brot kam, genauer gesagt, hätte ich sie beinah umgerannt. Sie war eine komische Alte geworden, mit ihren wild blickenden Augen und ihrem krausen Haar, das inzwischen dünn und stumpf war.
    »Ach, Jaffy«, sagte sie, »du kommst mich nie besuchen!«
    Es war so viel Zeit vergangen. Ihre Begrüßung überraschte mich.
    »Ich bin nicht viel zu Hause«, sagte ich und blieb verlegen stehen. Dabei freute ich mich eigentlich über die Begegnung. Weiß der Himmel, warum. Sie war einfach ein Teil von früher, das war der Grund.
    »Na, wenigstens hättest du es hin und wieder mal versuchen können«, sagte sie, »so schwer ist das doch nicht.«
    »Ich weiß nicht recht, Mrs Linver«, erwiderte ich, »ich dachte, vielleicht würden Sie mich nicht sehen wollen.«
    »Sei doch nicht albern.« Brummig verlagerte sie ihren Korb von einer Hand in die andere. »Du bist es, der darüber hinwegkommen muss«, und damit stapfte sie davon.
    Lieber Gott, mir schossen die Tränen in die Augen. Ich rannte hinter ihr her. »Wie geht es Ihnen, Mrs Linver?«, sagte ich. »Kann ich Ihnen das tragen?«
    »Zu spät«, knurrte sie, aber ich ließ nicht locker, begleitete sie in die Fournier Street, ging mit ins Haus, schürte das Feuer,
kochte ihr einen Tee und setzte mich eine Weile dazu und trank ihn mit ihr. Auf eine irgendwie seltsame Weise mochte ich sie und war ihr beschämend dankbar dafür, dass sie meine Anwesenheit ertrug.
    » Sie besucht mich auch nie«, sagte sie. »Ist immer dasselbe.«
    »Wahrscheinlich hat sie keine Zeit«, sagte ich.
    »Doch, sicher. Sie kommt nur einfach nicht. Hat Angst um ihren Schönheitsschlaf. Sie singt nämlich wieder.«
    »Ach! Wo denn?«
    »Das weiß ich nicht. Ich glaube, in der Goose.«
    »Und immer noch verlobt?«
    »Ja, sicher«, sagte sie so stolz, als spräche sie von ihrem eigenen Galan. »Er ist Leichtermann. Ein verlässlicher Mensch.«
    Eigentlich hatte ich es nicht vor, aber ich ging trotzdem zu Paddy's Goose. Meine Füße trugen mich einfach hin, und da saß sie dann auch an einem voll besetzten Tisch, weich und beschwipst, kichernd und aufgelöst. Ich hatte sie seit damals nicht mehr gesehen, seit wir so steif und linkisch miteinander gewesen waren und sie mich im Flur geküsst hatte. Ich ging direkt zu ihr und quetschte mich neben sie.
    »Hab deine Mama gesehen.«
    Lächelnd, mit verhangenen Augen drehte sie sich zu mir um, ihr Gesicht glänzte. »Jaffy, na so was«, sagte sie, lehnte sich an meine Schulter und steckte einen Fingerknöchel in den Mund, »der gute alte Jaffy.« Wie sie da hing; dieser eigentümlich starre Blick! Hatte sich einfach zugeschüttet. Jetzt war ich hier und wusste plötzlich nicht weiter.
    »Morgen früh bin ich weg.«
    »Ach Gott«, sagte sie. Ihr Kopf rollte nach hinten. »Ist das nicht immer so?«
    Ich legte meinen Arm um sie. »Wo ist dein Frank?«
    Leute schoben sich hinter unseren Schultern vorbei und brachten ihre Locken zum Wippen.
    »Irgendwo hier.« Sie blickte sich vage um. »Mein lieber, lieber Jaffy«, sagte sie. Der Kuss, den sie mir gab, war heiß und heftig, entschieden und rückhaltlos wie von einem Kind. »Mach dir keine Sorgen, Jaff, er hat nichts dagegen, wenn ich dich küsse«, sagte sie, und dabei weinte sie die ganze Zeit, drehte sich weg und wischte sich die Wangen mit den Händen ab.
    »Warum weinst du?«
    »Ich?« Sie lachte. »Ich wein doch nicht. Mir geht es bestens. Hab die Arbeit geschmissen«, sagte sie. »Konnte es dort nicht mehr aushalten, war was für Idioten. Hier kann ich mehr verdienen. Pass auf, Süßer, schau mir zu.« Und sie schnappte sich ihr Glas, leerte es – ein gewohntes Ritual – auf einen Zug, sprang hoch und mischte sich unter die Tanzenden. Ein Geiger, nicht so talentiert wie Simon Flower, spielte einen Walzer. Welch ein Ereignis, dieses Mädchen, wie sie sich da durch den hell erleuchteten, verrauchten Raum lächelte. Ich war nicht mehr nüchtern. Wie viel von dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher