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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt
Autoren: Carol Birch
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du herrliches Wesen, rief ich, nicht laut, nur innerlich laut.
    »Möchtest du zu ihm rein?«, fragte Tim.
    Natürlich wollte ich zu ihm rein, aber ich war kein Narr. »Erst, wenn Mr Jamrach es sagt«, erwiderte ich.
    »Smokey ist in Ordnung«, sagte Tim, »er hat jahrelang wie ein Familienmitglied bei irgendwelchen feinen Leuten am Gloucester Square gelebt. Er ist wie einer von uns.«
    »Und warum ist er dann hier?«
    »Weiß ich nicht. Donnerstag soll er in den Norden«, antwortete Tim. »Willst du rein zu ihm?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Ach, komm. Ich hab die Schlüssel. Du glaubst doch nicht, er würde mir die Schlüssel überlassen, wenn es gefährlich wäre, oder?«
    Smokey und ich musterten einander.
    »Los, komm«, sagte Tim.
    »Nein.«
    »Feigling.«
    Er ging weg und ließ mich in der Dunkelheit stehen.
    »Hinlegen!«, brüllte er die unruhigen Tiere an, während ich hinterherstolperte und mir die Zehen an den dummen Schild
kröten stieß, die so gewichtig umherliefen, als wüssten sie, wohin sie wollten.
    Eigentlich hätte ich ihn schlagen müssen, weil er mich einen Feigling genannt hatte. Ich dachte darüber nach, während ich die Rampe hinunterpolterte, aber ich habe mich noch nie gern geprügelt.
    »Alles in Ordnung?«, rief Jamrach.
    Er stand mit einem kleinen, stämmigen Mann in langem Mantel und Gummistiefeln vorm Gehege des schwarzen Bären. Im trüben Licht aus der Hintertür sah ich Rauchwölkchen über ihren Köpfen wabern.
    »Alles in Ordnung!«, rief Tim und meinte dann zu mir: »Siehst du den? Das ist Dan Rymer. Mit dem fahre ich zur See, wenn ich alt genug bin.«
    Jamrach rief uns ins Büro. In der Luft hing Kaffeeduft, kräftig und heiß, und machte mir, schon als wir durch die Hintertür traten, den Mund ganz wässrig. Ein leises Geflatter folgte dem tanzenden Windlicht, während wir den Sperlings- und Hüttensängerraum durchquerten. Das Büro war hell erleuchtet. Bulter schenkte gerade aus einem hohen Topf Kaffee ein. Dampf stieg in langsamen, heißen Spiralen auf und mischte sich mit blauem Rauch.
    »Saubere Arbeit, prima, Dan«, sagte Mr Jamrach und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Ich könnte mir denken, dass Sie jetzt eine ganze Weile zu Hause bleiben?«
    »Nie lang genug und immer zu lang«, sagte Dan Rymer und nahm seine Mütze ab. Seine Stimme war rau wie Sand.
    Kaffeeschalen füllten sich auf Bulters Schreibtisch, und ich dachte, ich würde in Ohnmacht fallen von dem Duft. Und gleichzeitig passierte etwas Schreckliches in meinen Füßen.
    »Das ist der Junge, von dem ich Ihnen erzählt habe«, sagte Jamrach, »der es für angebracht hält, einem Tiger die Nase zu tätscheln.«
    »Ach, was?« Der Mann richtete seine kleinen, faltigen Augen auf mich und sah mich leicht von oben herab scharf an. Eine lange Tonpfeife, weiß und neu, steckte in seinem Mund, und Rauch kräuselte sich um seinen Kopf. Jetzt, wo ich langsam auftaute, war der Schmerz in meinen Füßen unerträglich. Tränen rannen mir über die Wangen. Der Mann erinnerte mich an eine Schildkröte oder eine Eidechse, aber gleichzeitig wirkte er jung, denn es gab kaum Spuren von Grau in seinem braunen Haar.
    »Er braucht Schuhe«, sagte Tim.
    Alle blickten auf meine Füße. Ich auch. Meine Füße waren die platten, harten Pfoten eines Tieres, und sie waren blau vor Kälte. Die Pflaster um meine blutigen Zehen nässten.
    Der Mann setzte sich und zog seine Gummistiefel aus. Er schälte sich aus einem dicken Paar hellroter, häufig gestopfter Socken und zog sie mir über meine verfrorenen Füße. »Die hat meine Frau gemacht«, sagte er, »und all die gestopften Stellen stammen von ihr. Siehst du. Sie ist ein Genie, meine Frau.«
    Er reichte mir einen Becher Kaffee.
    »Sobald du zu Hause bist, wäschst du dir die Füße«, sagte er.
    Natürlich waren sie viel zu groß, aber ich trug sie wie Beutel, und es saß noch die Wärme seiner Füße darin.
     
    Ich liebte die Arbeit bei Jamrach. Ich kümmerte mich um die Tiere. Mr Jamrach kaufte mir Stiefel. Wir mussten die Tiere zählen, den Hof fegen, Käfige und Gehege reinigen, Stroh und Wasser erneuern und das Fressen verteilen. Der dicke Cobbe war zuständig für die schweren Arbeiten. Bulter erledigte hauptsächlich die Buchführung, tauchte aber auch im Hof auf, wenn er gebraucht wurde, und behandelte die Tiere mit souveränem Geschick. Viel zu einfach, signalisierte sein Auftreten. Viel zu einfach für mich, all diese Löwen und Krokodile und Bären und
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