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Der Anruf kam nach Mitternacht

Der Anruf kam nach Mitternacht

Titel: Der Anruf kam nach Mitternacht
Autoren: Tess Gerritsen
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sah ihn vor sich, wie er über die absurde Meldung seines eigenen Todes lachen würde. Ja, sie würden darüber lachen, wenn er wieder zu Hause war.
    »Mrs. Fontaine, bitte«, sagte der Mann schließlich. »In welchem Hotel war Ihr Mann in London abgestiegen?«
    »Im … im Savoy. Ich muss die Telefonnummer hier irgendwo haben … Ich muss schnell nachsehen …«
    »Schon gut, ich werde sie selbst herausfinden. Ich werde mich telefonisch erkundigen. – Vielleicht sollten wir uns morgen früh treffen.« Seine Worte klangen gemessen und vorsichtig, ausgesprochen mit der gefühllosen Routine eines Bürokraten, der gelernt hatte, nichts preiszugeben. »Könnten Sie bitte in mein Büro kommen?«
    »Wie … wie komme ich dorthin?«
    »Haben Sie einen Wagen?«
    »Nein. Ich habe kein Auto.«
    »Ich werde Ihnen einen Wagen schicken.«
    »Das ist ein Irrtum, nicht wahr? Ich meine … Sie machen doch auch Fehler, oder?« Sarah wollte nur ein bisschen Hoffnung von ihm haben, einen dünnen Faden, an den sie sich klammern konnte. Wenigstens das hätte er ihr geben können. Zumindest ein bisschen Verständnis hätte er zeigen können.
    Aber der Mann sagte nur: »Wir sehen uns dann morgen früh, Mrs. Fontaine. So gegen elf Uhr.«
    »Warten Sie, bitte! Es tut mir leid, ich kann gar nicht klar denken. Ihr Name … wie war er doch gleich?«
    »Nicholas O’Hara.«
    »Und wo ist Ihr Büro?«
    »Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte er. »Der Fahrer wird Sie herbringen. Gute Nacht.«
    »Mr. O’Hara?«
    Sarah hörte das Summen in der Leitung. Der Mann hatte bereits aufgelegt. Sie rief sofort das Savoy-Hotel in London an. Ein einziger Anruf, und die Sache wäre geklärt. Bitte, dachte sie, bis die Verbindung zustande kam, ich möchte deine Stimme hören …
    »Savoy-Hotel«, sagte eine Frauenstimme auf der anderen Seite des Erdballs.
    Sarahs Hand zitterte so stark, dass sie kaum den Hörer halten konnte. »Hallo. Verbinden Sie mich bitte mit Mr. Geoffrey Fontaines Zimmer«, stieß sie hervor.
    »Ich bedaure, gnädige Frau«, erklärte die Stimme, »aber Mr. Fontaine ist vor zwei Tagen abgereist.«
    »Abgereist?«, rief Sarah. »Wohin denn?«
    »Er hat nichts hinterlassen. Falls Sie jedoch eine Nachricht übermittelt haben möchten, werden wir sie selbstverständlich an seine Heimatanschrift …«
    Später wusste Sarah nicht, ob sie sich überhaupt verabschiedet hatte. Sie starrte das Telefon an, als wäre es etwas ganz Fremdes, etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Langsam glitt ihr Blick hinüber auf Geoffreys Kopfkissen. Das französische Bett schien sich endlos ausdehnen zu wollen.
    Plötzlich war sie allein in einem viel zu großen Bett, allein in einer Wohnung, in der es viel zu still war. Ein Schauer durchrieselte sie, als der stumme Schmerz aufstieg und ihr die Kehle zuschnürte. Sie hatte den verzweifelten Wunsch zu weinen, aber die Tränen wollten nicht kommen.
    Sarah warf sich mit dem Gesicht in die Kissen aufs Bett zurück. Die Bezüge waren eiskalt.
    Vielleicht kam Geoffrey nie wieder nach Hause. Sie waren erst zwei Monate verheiratet …
    Nick O’Hara trank bereits die dritte Tasse Kaffee und lockerte seine Krawatte. Nach zwei Wochen Urlaub, in denen er nichts anderes als eine Badehose getragen hatte, kam er sich mit der Krawatte wie in der Schlinge des Henkers vor. Er war erst seit drei Tagen zurück in Washington und schon wieder gereizt. Im Allgemeinen war ein Urlaub dazu da, neue Kräfte zu tanken, und deshalb war er ja auf die Bahamas geflogen. Er brauchte Zeit, um allein zu sein, sich ein paar wichtige Fragen zu stellen und die Antworten darauf zu finden.
    Doch der einzige Schluss, zu dem er gekommen war, bestand darin, dass er sich unglücklich fühlte.
    Nach achtjähriger Tätigkeit im Auswärtigen Amt hatte Nick O’Hara die Nase von seinem Job nur allzu voll. Aber das lag nicht ausschließlich an ihm. Mehr und mehr hatte er die Geduld für die politischen Spielereien des Staates verloren … Er war nicht in der Stimmung zu spielen. Er war trotzdem dabeigeblieben, weil er an seinen Job und dessen innere Werte glaubte. Von den Friedensmärschen seiner Jugendzeit war er im besten Alter von achtunddreißig Jahren an die Verhandlungstische für den Weltfrieden gelangt.
    Aber Ideale, so hatte er feststellen müssen, führten nirgendwohin. Zum Teufel, die Diplomatie fußte nicht auf Idealen. Wie alles andere auch, lief sie auf den Schienen des Protokolls und parteiorientierter Politik. Während Nick
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