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Der Anruf kam nach Mitternacht

Der Anruf kam nach Mitternacht

Titel: Der Anruf kam nach Mitternacht
Autoren: Tess Gerritsen
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Stimme zu hören. Es war Mittwochnacht, und auf seinen monatlichen Reisen nach London rief Geoffrey immer mittwochs bei ihr an. Heute Abend war sie allerdings verschnupft und hustend eher zu Bett gegangen, denn in Washington ging mal wieder ein Grippevirus um. Es war die Hongkong-Grippe, eine besonders unangenehme Krankheit, die sie jetzt mit der Hälfte ihrer Kollegen im mikrobiologischen Laboratorium teilte.
    Eine Stunde lang hatte sie lesend im Bett gesessen und tapfer darum gekämpft, munter zu bleiben. Aber die Kombination aus einer Antigrippekapsel und der letzten Ausgabe des »Mikrobiologie Journals« hatten schneller gewirkt als jede Schlaftablette. Innerhalb von Minuten war sie in ihre Kissen gesunken, die Brille immer noch auf der Nase.
    Sarah hatte sich vorgenommen, nur ein wenig zu ruhen, nur ein ganz kleines Schläfchen zu halten … Am Ende wurde sie jedoch immer müder, und der Schlaf überfiel sie.
    Sie schreckte aus einem Traum hoch und stellte fest, dass die Nachttischlampe noch brannte und das »Mikrobiologie Journal« auf ihrer Brust lag. Sie konnte nichts richtig im Zimmer erkennen. Sarah schob ihre Brille zurecht und sah auf den Wecker. Zwölf Uhr dreißig. Das Telefon gab keinen Mucks von sich. Hatte es etwa im Traum geläutet?
    Sie schrak hoch, als das Telefon erneut klingelte. Hastig nahm sie den Hörer ab.
    »Mrs. Sarah Fontaine?«, fragte eine männliche Stimme.
    Es war nicht Geoffrey, und plötzlich hatte sie eine schreckliche Vorahnung. Irgendetwas stimmte nicht. Sie setzte sich kerzengerade auf und war mit einem Mal hellwach. »Ja. Am Apparat«, sagte sie knapp.
    »Mrs. Fontaine, hier spricht Nicholas O’Hara vom Außenministerium. Ich bedaure, Sie zu so später Stunde stören zu müssen, aber …« Er schwieg. Es war dieses Schweigen, das Sarah am meisten erschreckte, weil es zu bewusst eintrat, zu routiniert, gekonnt eingesetzt, um den nachfolgenden Schock zu mildern. »Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten«, fuhr er fort.
    Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Am liebsten hätte sie geschrien: Nun sagen Sie es schon! Erzählen Sie mir, was passiert ist! Aber alles, was sie herausbrachte, war ein Flüstern. »Ja. Ich höre.«
    »Es geht um Ihren Gatten Geoffrey«, sagte er. »Es hat einen Unfall gegeben.«
    Ich träume, dachte Sarah und schloss die Augen. Wenn Geoffrey etwas passiert wäre, hätte ich es gefühlt. Irgendwie hätte ich es gewusst …
    »Es ist vor ungefähr sechs Stunden geschehen«, sprach der Mann weiter. »Im Hotel Ihres Mannes brach ein Feuer aus.« Er machte eine erneute Pause. Dann fragte er besorgt: »Mrs. Fontaine? Sind Sie noch am Apparat?«
    »Ja. Bitte, sprechen Sie weiter.«
    Der Anrufer räusperte sich. »Es tut mir leid, Mrs. Fontaine, es Ihnen sagen zu müssen. Ihr Gatte … ist nicht durchgekommen.«
    Der Mann ließ Sarah einen Augenblick der Besinnung, einen Augenblick, um ihren Schmerz zu fassen. Um ihr Schluchzen zu unterdrücken, presste sie sich die Hand vor den Mund. Dieser Schmerz war zu intim, als dass sie einen Fremden davon wissen lassen wollte.
    »Mrs. Fontaine?«, fragte er dann sanft. »Ist alles okay?«
    Schließlich konnte Sarah zitternd wieder sprechen.
    »Ja«, flüsterte sie.
    »Machen Sie sich über die Formalitäten keine Gedanken. Ich werde die Einzelheiten mit unserem Berliner Konsulat klären. Natürlich wird es etwas dauern, aber sobald die deutschen Behörden die Leiche freigegeben haben, müsste eigentlich …«
    »Berlin?«, unterbrach Sarah ihn.
    »Es liegt in ihrem Zuständigkeitsbereich, müssen Sie wissen. Es wird einen genauen Bericht geben, wenn die Berliner Polizei …«
    »Aber das ist doch unmöglich!«
    Nicholas O’Hara bemühte sich um Geduld. »Es tut mir leid, Mrs. Fontaine. Seine Identität wurde bestätigt. Es gibt wirklich keinen Zweifel an …«
    »Aber Geoffrey war in London«, unterbrach sie ihn aufgeregt.
    Ein langes Schweigen folgte. »Mrs. Fontaine«, sagte der Mann dann mit irritierender Ruhe, »der Unfall ist in Berlin passiert.«
    »Dann muss hier ein Irrtum vorliegen. Geoffrey war in London, das weiß ich ganz sicher. Er kann gar nicht in Deutschland gewesen sein!«
    Wieder trat eine Pause ein, diesmal länger, und jetzt spürte Sarah, dass der Anrufer verwirrt war. Sie hatte den Hörer so fest an ihr Ohr gedrückt, dass sie einen Augenblick nur das Klopfen ihres eigenen Herzens vernahm. Da musste ein Irrtum vorliegen. Ein völliges Missverständnis. Geoffrey konnte nicht tot sein. Sie
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