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Der amerikanische Investor (German Edition)

Der amerikanische Investor (German Edition)

Titel: Der amerikanische Investor (German Edition)
Autoren: Jan Peter Bremer
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ein vielleicht zehn Minuten langer Beitrag in einer Kindersendung gewesen, die er im Alter von acht oder neun oder zehn Jahren gesehen haben musste. Allerdings sah er diesen Beitrag heute noch wie damals vor sich. Dieser Beitrag hatte ihn überwältigt. In Ali hatte er sich gespiegelt. Zwar lebte Ali nicht wie er in einem prächtigen, alten Haus auf einem riesigen Grundstück mit allerhand Tieren und Seezugang, sondern irgendwo in Deutschland in den beengten Verhältnissen einer ärmlichen Neubausiedlung, aber wie er war auch Ali das einzige Kind seiner Eltern. Wie er war auch Ali erst vor kurzem zugereist. Wie er war auch Ali ein Fremder in seiner Umgebung, und so wie er von den Kindern in seinem Dorf, so wurde auch Ali von den Kindern in seiner Siedlung verhöhnt und verlacht, gestoßen und geschubst. Wie bei ihm hielten sich auch bei Ali die anderen Kinder die Nase zu, wenn er sich näherte, und wie er saß auch Ali immer allein auf seiner Schulbank. Die Nachmittage verbrachte Ali, wie er, immer nur mit seiner Mutter, und genau wie er brütete auch Ali die meiste Zeit über furchtbar schweren Hausaufgaben, bevor Ali dann wie er auch, nachdem sie beide noch eine halbe Stunde fernsehen durften, ins Bett gehen musste. Alles, was er aus diesem Beitrag über Ali erfahren hatte, erfuhr er täglich selbst. Wer, außer Ali, konnte ihn überhaupt verstehen? Mit wem ließ sich besser sprechen als mit Ali? Ali war immer da gewesen. Ali war da, wenn er sich nachts in dem großen Haus fürchtete und wenn er mit den Tränen kämpfte, weil ihm der nächste Tag bevorstand. Im Bus auf dem freien Platz saß Ali neben ihm. Ali war bei ihm, wenn er sich in den Schulpausen, um nicht auffindbar zu sein, bis es wieder läutete, auf der Toilette einschloss, und Ali war bei ihm, wenn er morgens, anstatt zum Bushäuschen ins Dorf zu gehen, in ein Gebüsch am Rande des Grundstücks hineinkroch, in dem er sich dann, bis die Schule endete, versteckt hielt. Ali war bei ihm, wenn er die Hose über seine dünnen Beine zog, wenn er vor dem Spiegel eine Grimasse schnitt, wenn er mit ungeschickten, blau verfärbten Fingern die Füllerpatrone wechselte, wenn er gegen seinen Würgreiz einen Eintopf löffelte. Bei jedem Blick, jedem Wort, jeder Bewegung hatte Ali ihn begleitet und auch jetzt begleitete er ihn wieder. Stand dort oben an der Decke nicht groß sein Name! Sah er nicht mit seinen dunklen Augen zu ihm hinab?
    Er schreckte auf und fuhr aus dem Kissen hoch. War der kleine Ali vielleicht sein ungebetener Gast? Nie mehr hatte er sich seit diesen Kindheitstagen so hilflos gefühlt wie jetzt. Als ob er wieder verstockt und verzagt, erschrocken und panisch in dem Gebüsch am Rande des Grundstücks kauerte, so lebte er seit diesem Nachmittag, an dem der kleine Ali ihm im Park auferstanden war, dahin. Nichts, was ihn noch vor wenigen Monaten beseelt hatte, hatte seine Farbe behalten. Morgens erwachte er in einem grauen Zimmer, und im Badezimmer, wenn er sich dann lustlos die Zähne putzte, erblickte er einen grauen Menschen im Spiegel, der gleich mit mutlosen Schritten, einen freudlosen Hund an seiner Seite, durch die graue Straße in den ausgedörrten Park schlendern würde. Wie in diesen Kindheitstagen erschien ihm auch jetzt jede Stunde endlos und wie in diesen Kindheitstagen fühlte er sich nur sicher, wenn er seinen Kopf unter einem Kissen verbergen konnte, wenn niemand etwas von ihm forderte, niemand zu ihm sprach, niemand ihn sah. So wie er sich in diesen Kindheitstagen nicht von dem Grundstück gewagt hatte, so wagte er sich jetzt nicht mehr aus seinem Zimmer, und so wehrlos er sich damals gefühlt hatte, stumm dem Unglück hingegeben, so fühlte er sich auch jetzt. Warum hatte er seinen Kindern nie von dem kleinen Ali erzählt? Warum hatte er nie mit seiner Frau über ihn gesprochen? Warum konnte er den kleinen Ali nicht einfach aushauchen? Warum öffnete er nicht das Fenster und schrie den kleinen Ali in den Abend hinaus? Warum rannte er nicht zum Arzt und ließ ihn sich wegschneiden? Warum klopfte er nicht bei der Nachbarin und stieß ihn in ihren Flur? Was hatte ihn dazu auserkoren, an dem kleinen Ali zugrunde zu gehen? »Hier ruht der einzig wahre Freund des kleinen Ali.« Würden seine Kinder vielleicht noch im hohen Alter an dieser Grabinschrift rätseln oder interessierte es sie gar nicht, wo er beerdigt war?
    Er sank auf das Kissen zurück. War es nicht, auch wenn es nur hier, im Stillen, geschah, durch und durch vermessen zu
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