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Der Alchimist von Krumau

Der Alchimist von Krumau

Titel: Der Alchimist von Krumau
Autoren: Andreas Gößling
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wieder hinauf zum Hungerturm schleichen musste. Denn ich konnte ja nicht anders, Julius ist mein Mann, auch wenn ich mich dem Franz vermählen ließ. So wie auch Mutter Bianca einst dem Bader Treue schwor, obwohl ihre Seele droben in der Burg geblieben war.
    Meine Seele war bei Julius im Hungerturm, Madame, und Julius’ Seele war beim Lumpenteufel. Ist das nicht sonderbar?
    Sein Körper saß im Kerker, und mein Leib lag in Franzens Armen. Meine Lippen und Hände liebkosten meines Gemahls Gemächlichkeiten, und währenddessen haschte droben Julius mit zitternden Fingern nach Flor!
    Ich hatte mich in diesem grauen Albtraum eingesponnen, Katharina, niemals vorher hatte ich mir vorgestellt, dass es auch mir ergehen könnte wie Mutter Bianca: von der Burg hinabgestürzt »wie eine Spielfigur, die über den Rand des Schachbretts fällt«, wie d’Alembert einmal sagte. Ah, Euer eleganter Trübsinn, Maître! Mir selbst ist nur der Trübsinn geblieben, und ein Kübel fiebrig bunter Erinnerungen.
    Wart Ihr erstaunt, Katharina, als im Februar auf einmal alles endete? Verzeiht die närrische Frage: Für Euch endete ja nichts, was irgend in Eure weiße Welt hineingespielt hätte. Euren Sohn Julius hattet Ihr längst verloren gegeben, es war nur noch die Bestätigung, dass Ihr damals recht gehandelt hattet. Die Umnachtung umfing ihn bis zuletzt, wie von Euch vorausgesagt, er hätte Euch nimmermehr erkannt (zu Eurem Glück, nebenher gesagt), selbst wenn Ihr bei ihm im Stroh gehaust hättet; also habt Ihr Euch nichts vorzuwerfen. Schon wieder untadelig, Katharina! Wenn Ihr ahntet, wie sehr ich Euch bewundere.
    Das Gitterfenster in seiner Zelle ließ sich bewegen wie ein gewöhnliches Fenster, zuweilen wurde es geöffnet, wenn der Sturm den Laden aus seiner Arretierung gerissen hatte. Danach mussten die Wächter es wieder mit Riegel und Schlüssel verschließen, doch diese Pflicht wurde an jenem Tag versäumt.
    Am 18. Februar 1609 A.D. einem frostklirrenden Mittwoch, Katharina, dem Tag, an dem Euer Sohn Julius elender starb als der verdroschenste Straßenköter in der dreckigsten Gasse zu Krumau oder Prag.
    Da war ich grad wieder auf Besuch bei ihm, Euer Enkelkind in meinem unversehrten Arm. Es muss um die Mittagszeit gewesen sein, als Julius, nach langem, schrecklichem Kämpfen mit dem Nabellosen, auf einmal zum Fenster emporsprang, mit einem Knie auf der Brüstung Halt fand, die Schultern seitlich durch die Bresche zwängte und im nächsten Augenblick schon draußen war, zwanzig Schritt überm Bärengraben.
    Ich glaube fest, dass er schon nicht mehr mitbekam, wie die Bären ihn mit ihren Schnauzen und Pratzen umherwälzten, bis er wie ein großer Schneemann aussah, blendend weiß und von roten Schlieren bedeckt. Und niemals werd ich glauben, Katharina, dass der Kadaverklumpen mit den ausgefressenen Augenhöhlen, den der Flößer Kudaçek tags drauf aus der Moldau fischte, der Leichnam meines lieben kleinen Flor war – nie und nimmer, Madame!
    Letzte Nacht träumte mir, dass Melchior in den Krieg ziehen müsste, ein Knabe von allenfalls dreizehn Jahren. Die Welt brannte, Katharina, von Horizont zu Horizont, überall stieg Rauch aus eingeäscherten Weilern und Höfen auf. Schnee bedeckte Wege und Felder, trotzdem liefen Tausende nackter Leute in meinem Traum herum, schreiend, die Ohren abgeschnitten, die Nasen abgehackt, die Augen ausgestochen.
    Da kam eine prachtvolle Kutsche des Weges, Madame, von vier Schimmeln und vier Rappen gezogen. Darin saßen die väterliche Majestät und Ihr selbst, Madame, gehüllt in eine Wolke aus glitzernd weißer Seide.
    Raben flogen krächzend auf, so zahlreich, dass sie den Himmel verdunkelten. In dieser plötzlich hereingebrochenen Nacht kam Eure Kutsche vom Weg ab, kippte um und kollerte eine Böschung hinab, so unwirklich langsam, wie es im Traum zu sein pflegt.
    Die Nackten ohne Ohren und Nasen kamen gleich herbeigelaufen, sie drängten sich über der Unglücksstätte zusammen, und wer noch Augen hatte, berichtete den andern, was dort unten, am Fuß der Böschung, zu sehen war. Die Kutsche ein Wirrwarr aus zersplittertem Holz und verbogenen Goldbeschlägen, die Pferde wild durcheinander wiehernd, in acht verschiedene Richtungen zerrend.
    »Der Kaiser«, sagte in meinem Traum eine klare, junge Stimme, ich wusste sofort, dass es die Stimme meines Melchior war, Eures Enkelsohns, wie sie sich in mehr als einem Jahrzehnt anhören wird. »Der Kaiser und Katharina«, sagte Melchior, eine brennende
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