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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
Autoren: Noel Hardy
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kaum noch zu überbieten. Und jetzt, nachdem das mit der Vase passiert ist …«
    Â»Welche Vase?«
    Â»Die aus der Ming-Dynastie, die ein Kunde bei meinem Vater versteigern lassen wollte.«
    Â»Was ist damit?«
    Â»Sie ist kaputt.«
    Â»Der Typ hat euch eine kaputte Ming-Vase zur Versteigerung angeboten?«
    Â»Nein, er hat uns eine heile und sehr wertvolle Vase gebracht. Ich habe sie kaputtgemacht. Sie ist mir heruntergefallen.«
    Â»Aber sie war … Ihr seid doch bestimmt versichert?«
    Â»Nein. Papa hat … Also, er konnte sich die Beiträge nicht mehr leisten. Und als wäre das nicht genug …« Emma verstummte, denn die Erinnerung lähmte ihr die Zunge. Sie holte tief Luft und versuchte es noch einmal, aber wieder verschlug es ihr die Sprache. »Als wäre das nicht genug …«
    Â»Als wäre das nicht genug?«, half Sera.
    Â»Ist der Kunde auch noch Dr. Rochus Schilfstengl«, ergänzte Emma endlich.
    Â»Der Bankier deines Vaters?«, fragte Sera. »Auf dessen Geld ihr angewiesen seid?«
    Â»Genau der.«
    Â»Hast du ein Glück!«

    Â» N ein, völlig unmöglich«, erklärte Rochus Schilfstengl, Direktor der Privatbank Schilfstengl & Schmalfuß Söhne, gegründet 1889. »Keine weitere Verlängerung der Kreditlinie, auf keinen Fall. Nicht ohne Sicherheiten!« Er saß hinter seinem wuchtigen Ebenholzschreibtisch, ein gerahmt von einem Fenster, das den Blick auf dichtes Schneetreiben freigab. Auf dem Fensterbrett stand ein Adventskranz mit honiggelben Kerzen und goldenen Schleifchen.
    Â»Sicherheiten?«, fragte Emma. »Nach dreißig Jahren verlangen Sie plötzlich Sicherheiten von uns?! Mein Vater und Ihre Bank haben Jahrzehnte auf Treu und Glauben –«
    Â»Sie sind mit den Zinsen für die bisher bereits bewilligten Kredite seit über einem Jahr im Rückstand, von der versprochenen Tilgung ganz zu schweigen«, unterbrach Schilfstengl sie, bevor er sich an ihren Vater wandte: »Du weigerst dich seit Jahren, einer umfassenden Betriebsprüfung zuzustimmen und …«
    Â»Ich führe ein Antiquitätengeschäft«, sagte Emmas Vater, der in einem dunkelroten Ledersessel vor Schilf stengls Schreibtisch versank, »keinen multinationalen Kon zern. Ich brauche nur eine Überbrückung für die nächsten beiden …«
    Schilfstengl schüttelte betrübt, aber unnachgiebig den Kopf. »Nein, Theodor, so leid es mir tut, diesmal musst du dich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen.«
    Emma saß auf einem mit Samt gepolsterten Stuhl ohne Armstützen, im Schoß ihren Rucksack, von dem der Geruch nach feuchtem Plastik aufstieg. Sie bereute es, zugunsten eines dunkelgrauen Kostüms auf ihre Jeans verzichtet zu haben. Unterwegs hatte sie sich eine Laufmasche zugezogen, die auf ihrem Schienbein zu brennen schien. Außerdem hatte es geregnet, der Schirm war wieder nicht aufgegangen, und das nasse Haar hing ihr in den Blusenkragen. Die Pumps, ihre besten, lösten sich praktisch auf.
    Ihr Vater hob die Hände und ließ sie wieder sinken, als wüsste er nicht, was er noch zu seinen Gunsten anführen könnte. In seinem abgenutzten moosgrünen Cordja ckett, dem fliederfarbenen Hemd und der ausgebeulten Trevirahose machte er einen erschöpften, gerupften Eindruck, den die goldgerahmte Brille aus besseren Tagen nur noch verstärkte.
    Ein Summen drang aus Emmas Rucksack. Sie hatte ihr Handy nicht ausgeschaltet. Das Summen wiederholte sich hartnäckig. Mark! Er hatte doch an sie gedacht, und jetzt wollte er ihr zum Geburtstag gratulieren. Die Versuchung, das Handy aus dem Rucksack zu holen, war so groß, dass ihr Herz zu rasen begann. Um dem Drang zu widerstehen, ließ sie ihren Blick durch das holzgetäfelte Direktionsbüro wandern. Ihre Augen verharrten auf den heroischen Gemälden mit italienischen Motiven an den Wänden, der kristallbestückten Getränkevitrine und den gerahmten Fotos von zahllosen Schilfstengl- und Schmalfuß-Ahnen beim Händedruck oder Schulterschluss mit Politikern, EU-Kommissaren und Industriekapitänen.
    Ihr Vater unternahm einen letzten Versuch, seinen langjährigen Bankier zu erweichen. »Einhundertfünfzigtausend«, bat er leise, »nur bis zum Ende des nächsten Quartals. Ich habe vor einigen Tagen eine Madonna hereinbekommen, eine Holzschnitzarbeit aus der Werkstatt von Ignaz Günther, und wenn
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