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Der 13. Engel

Der 13. Engel

Titel: Der 13. Engel
Autoren: Michael Borlik
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fröhlich.
    Es wurde ein kurzes Frühstück, denn Amys Vater hatte noch zu arbeiten. Er war Reporter bei der Royal Post, der größten und angesehensten Zeitung der Stadt. Schon mehrmals war es ihm gelungen, verzwickte Fälle aufzuklären, an denen seine Kollegen und sogar die Polizei verzweifelt waren. Neuerdings arbeitete er an dem rätselhaften Verschwinden der dreizehn Engelsstatuen. Vor vier Wochen war jemand in die Kathedrale im Süden der Stadt eingebrochen und hatte sie gestohlen. Das war es zumindest, wovon die Polizei ausging. Und wie hätte es sich auch anders zugetragen haben sollen? Immerhin waren die Statuen aus massivem Stein. Sie konnten also schlecht selber von ihren Podesten herabgestiegen sein und sich davongemacht haben.
    Erst vor Kurzem musste Amys Vater auf einen wichtigen Hinweis gestoßen sein, denn seit einigen Tagen arbeitete er noch eifriger als sonst. Allerdings wollte er Amy nichts darüber verraten, was sie ärgerte. Wenn er schon so wenig Zeit mit ihr verbrachte, konnte er sie wenigstens an seiner Arbeit teilhaben lassen.
    »Soll ich dir beim Abräumen helfen?«, fragte ihr Vater und stand von seinem Stuhl auf.
    Amy schüttelte den Kopf und sah ihm nach, wie er die Küche verließ, um sich in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen. Was war so anders an diesem Fall, dass er nicht mit ihr darüber reden wollte?

    Um fünf Uhr läutete die Türglocke. Das musste Tante Hester sein. Amy strich ihr Kleid glatt und öffnete die Haustür. Vor ihr stand eine hochgewachsene, dunkelhaarige Frau mit einem spindeldürren Hals und so buschigen schwarzen Brauen, dass man Angst haben musste, sie würden einen jeden Moment anspringen. Sie trug ein tiefblaues Kleid und hielt einen glockenförmigen Schirm in der linken Hand, mit dem sie sich vor der Sonne schützte.
    »Wie groß du geworden bist«, sagte Tante Hester mit einer unangenehm schrillen Stimme. »Dabei bist du erst …« Sie runzelte die Stirn.
    »Elf«, sagte Amy.
    »Doch schon, so, so.« Tante Hester musterte sie mit einem kritischen Blick. »Nun ja, für elf bist du eher ein wenig klein geraten. Und so schrecklich dürr. Gibt dein Vater dir nicht genug zu essen?«
    Tante Hester hatte sich nicht im Mindesten verändert. Noch immer verteilte sie Gemeinheiten so großzügig, als wären es Bonbons. »Von meinen Freundinnen bin ich die Größte«, sagte Amy trotzig, obwohl das gelogen war. Sie hatte nämlich keine Freundinnen.
    Ihre Tante tat so, als hätte sie es nicht gehört. »Willst du mich nicht endlich hereinbitten?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sie Amy mit ihrem Schirm zur Seite und drängte sich an ihr vorbei ins Haus. »Hier sieht es immer noch so heruntergekommen aus wie früher. Wo steckt dein Vater?«
    »In der Küche«, sagte Amy und streckte Tante Hester hinter ihrem Rücken die Zunge raus.
    Als ihre Tante die Küche betrat, stand Amys Vater am Tisch, den er gerade für den Tee vorbereitet hatte. »Wir haben uns lange nicht gesehen, Hester.« Er deutete auf einen Stuhl. »Nimm doch bitte Platz.«
    Sie setzte sich und Amys Vater befahl der Teekanne mit einem Wackeln seines Zeigefingers, Tante Hesters Tasse zu füllen. »Dein Besuch überrascht mich«, sagte er, nachdem er und Amy ebenfalls saßen. »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, sind wir nicht unbedingt als Freunde auseinandergegangen.«
    »Wir sind noch nie Freunde gewesen, Rufus«, entgegnete Tante Hester spitz. »Doch lassen wir die Vergangenheit ruhen.« Ihre eisblauen Augen wandten sich Amy zu. »Wo ist der Zucker?«
    Hastig beugte sich Amy über den Tisch, um nach der Zuckerdose zu greifen.
    Tante Hester rümpfte die Nase. »Wie ich sehe, hat sich also nichts geändert. Noch immer beherrschst du nicht einmal …«
    »Genug«, unterbrach Amys Vater sie streng. »Vergiss nicht, das ist unser Haus und du bist hier nur Gast.«
    Tante Hesters Lippen wurden schmal. »Lass nur, Kind«, presste sie hervor. »Ich mache das selber.«
    »Hier ist sie schon.« Amy reckte ihr die Hand mit der Zuckerdose entgegen. Tante Hester schnaufte leise. Plötzlich zuckte ihr Finger, woraufhin die Dose Amys Griff entschlüpfte und zu ihr herübergeschwebt kam. »Siehst du, so gehört sich das.«
    Amys Wangen färbten sich rot. Sie war sich sicher, dass Tante Hester das nur getan hatte, um sie zu demütigen. Ihr Vater dachte wohl ganz ähnlich. Sein Gesicht hatte sich verfinstert. »Auch noch etwas Milch, Hester?« Im nächsten Moment hüpfte das Milchkännchen wie ein aufgescheuchtes
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