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Der 13. Engel

Der 13. Engel

Titel: Der 13. Engel
Autoren: Michael Borlik
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ihr über die Wangen. Das alles konnte nur ein grässlicher Albtraum sein, aus dem sie jeden Augenblick wieder erwachen würde.
    »Jetzt hör schon auf zu heulen«, fuhr Tante Hester sie an. »Ich kann das nicht ausstehen. Außerdem könntest du ruhig ein wenig mehr Dankbarkeit zeigen, schließlich bin ich bereit, dich bei mir wohnen zu lassen. Nun ja, zumindest bis zum Ende der Gerichtsverhandlung. Sobald dein Vater dann verurteilt ist und ich zu deinem neuen Vormund ernannt werde, schicke ich dich auf dieses Internat. Etwas mehr Strenge wird dir guttun.«
    Amy sah mit tränenverschleiertem Blick zu ihr auf. Fünf Jahre lang hatten sie sich nicht gesehen, trotzdem hatte ihre Tante bisher kein einziges freundliches Wort für sie übrig gehabt. Selbst jetzt war sie noch gemein zu Amy, wo ihr gerade das Schlimmste zugestoßen war, das sie sich hatte vorstellen können. Plötzlich runzelte Amy die Stirn. Warum war ihre Tante überhaupt so wütend? Eigentlich müsste sie doch frohlocken, wo ihrem Plan, Amy aus der Stadt zu schaffen, nun nichts mehr im Wege stand.
    »Himmel, worauf wartest du noch?«, fragte Tante Hester ungehalten. »Geh schon nach oben und pack deine Sachen!«
    Amy gehorchte ohne Widerworte. Stufe für Stufe schleppte sie sich hinauf ins Obergeschoss. Ganz dumpf und taub fühlte sie sich in ihrem Inneren, als wäre sie mit einem riesigen Wattebausch ausgestopft. Mechanisch hob sie die Hand, um die Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen. Kaum war sie drinnen, warf sie sich aufs Bett und vergrub schluchzend das Gesicht in den Kissen. Von unten drang Tante Hesters unangenehme Stimme zu ihr herauf. »Was machst du denn so lange da oben? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«

Der verzauberte Garten
    Tante Hester wohnte im Pfauenpark, einer vornehmen Wohngegend auf der anderen Seite der Stadt, die nur den wohlhabendsten und einflussreichsten Familien vorbehalten war, den Angehörigen uralter Adelshäuser und mächtiger Kaufmannsfamilien und natürlich den Ministern und Ratgebern des Königs. Nachdem sie das Haus verlassen hatten, rief Tante Hester eine Droschke herbei. Ratternd rollte ein Einspänner heran, der von einem schwarzen Pferd gezogen wurde. Mit einem Wink seines Fingers brachte der Kutscher zunächst Amys Koffer unter, anschließend half er ihr und ihrer Tante einzusteigen. Er selber kletterte zurück auf den Kutschbock und ließ die Peitsche knallen. Wiehernd setzte sich das Pferd in Bewegung.
    Die Droschke ruckelte über das unebene Kopfsteinpflaster, dass man seekrank hätte werden können. Doch Amy nahm das kaum wahr. Mit leerem Blick starrte sie auf die Häuser und Menschen, an denen sie vorüberfuhren. Wie trist und traurig die Welt ihr mit einem Mal vorkam. Überall sah sie zerlumpte Kinder, die in den Zugängen düsterer Hinterhöfe spielten oder vorübereilende Passanten um Geld anbettelten. Es gab so viele arme Menschen in dieser Stadt. Zwar waren sie alle magisch begabt, doch was nützte es ihnen, wenn sie kein Geld besaßen, um auf die Schule zu gehen oder um sich einen Hauslehrer zu leisten, der sie in Magie unterrichtete? Daher beherrschten die meisten von ihnen nur unbedeutende Zaubertricks, aber nichts, was ihnen hätte helfen können, ihrem traurigen Schicksal zu entrinnen. Und doch war es so viel mehr, als Amy je in ihrem Leben können würde. Das war alles so ungerecht! Die ganze Welt war ungerecht!
    Amy wischte sich über die Augen. Sie hatte so schreckliche Angst um ihren Vater. Und wie sehr sie ihn vermisste, obwohl sie erst kurz voneinander getrennt waren!
    Die Droschke fuhr auf eine breite Straße hinaus, auf der noch andere Kutschen unterwegs waren und die zu beiden Seiten von kleinen, eleganten Geschäften gesäumt wurde. Frauen flanierten in prächtigen Kleidern und mit Schirmen, die sie vor der ungewöhnlich warmen Oktobersonne schützten, die Gehwege entlang. Und die Männer trugen elegante dunkle Anzüge und Zylinder. Dies war eindeutig eines der reicheren Viertel der Stadt.
    Amy kam nur selten hierher, daher lenkten sie die vielen Dinge, die es zu sehen gab, ein wenig von ihrer Traurigkeit ab. Besonders die zahlreichen bunten Wimpel und Flaggen mit dem Wappen der königlichen Familie, die an Häusern und von Straßenlaternen hingen, zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie flatterten aufgeregt im Wind und erinnerten an die bevorstehende Krönung. Seit Wochen war die Stadt mit den Vorbereitungen dafür beschäftigt.
    »Ist es nicht furchtbar?«, beschwerte sich Tante Hester
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