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Der 13. Engel

Der 13. Engel

Titel: Der 13. Engel
Autoren: Michael Borlik
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aus heiterem Himmel. Vielleicht, weil es ihr einfach unmöglich war, längere Zeit zu schweigen, ohne dann und wann etwas Gehässiges von sich zu geben. »In zwei Wochen wird Prinz Henry zum König gekrönt. Ein Kind von gerade mal siebzehn Jahren. Er weiß doch gar nicht, was es überhaupt heißt zu regieren.«
    Amy konnte es nicht glauben. Wie konnte ihre Tante sich nur über so etwas aufregen, wo doch gerade erst ihr Vater verhaftet worden war?
    »Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?« Tante Hester schüttelte entnervt den Kopf. »Ich finde, wir brauchen einen richtigen König. Jemanden mit Erfahrung, der weiß, was er will. Und nicht so einen Grünschnabel.« Sie funkelte ihre Nichte an. »Ist es nicht so?«
    Amy nickte, um ihre Ruhe zu haben. Ein Streit mit ihrer Tante war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Dafür hatte sie einfach nicht mehr die Kraft.
    Der Fluss tauchte zu ihrer Rechten auf, ein breiter Strom von mattgrauer Farbe, der die Stadt in der Mitte teilte. Lastkähne glitten langsam auf ihm dahin. Und da war auch eines dieser neumodischen Dampfschiffe, die man seit einiger Zeit immer öfter sah. Amy krauste die Nase, als der Wind drehte und den Geruch von Abwässern und totem Fisch herüberwehte. Den »Preis des Fortschritts« hatte ihr Vater diesen Gestank einmal genannt.
    Plötzlich machte die Straße einen Schlenker und vor ihnen ragten die schwarzen Türme der alten Festung auf. In früheren Zeiten war sie der Sitz des Königs gewesen, heute diente sie nur noch als Gefängnis für Diebe, Verräter und Mörder. Dorthin mussten sie auch Amys Vater gebracht haben. Alleine bei dem Gedanken daran füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen. Doch Amy zwinkerte sie fort. Vor Tante Hester wollte sie auf keinen Fall mehr weinen. Sie würde nur wieder etwas Gemeines sagen.
    Bald darauf hielt die Droschke vor einem prächtigen Haus, das auf einem freien Platz am Ende einer Straße stand. Es war weiß wie frisch gefallener Schnee und um ein Vielfaches größer als das Haus, in dem Amy mit ihrem Vater wohnte. Amy mochte es nicht, obwohl sie wusste, dass auch ihre Mutter hier aufgewachsen war. Das Haus war ihr unheimlich. Aus dem Dach ragten viele spitze Giebel, die wie die Zähne eines hungrigen Wolfes aussahen. Der Anblick ließ sie frösteln.
    »Worauf wartest du noch?«, nörgelte Tante Hester und stieß sie fast aus der Droschke.
    Erst jetzt fiel Amy auf, dass der Kutscher ihr die Hand hinhielt. Nachdem auch ihre Tante aus der Kutsche geklettert war, zog sie ihre Geldbörse, um den Mann zu bezahlen. Amy nutzte die Gelegenheit, um sich ein wenig umzuschauen. Früher, als ihre Mutter noch gelebt hatte, waren sie Tante Hester gelegentlich besuchen gefahren. Allerdings lag das schon so lange zurück, dass Amy sich kaum daran erinnern konnte.
    Sie blickte die Straße zurück. Dort standen noch mehr Häuser. Zwar nicht ganz so imposant wie das von Tante Hester, aber dennoch beeindruckend. Die meisten lagen hinter den uralten Kastanien verborgen, die zu beiden Seiten der Straße wuchsen.
    Unter einem der Bäume entdeckte Amy einen Mann, der zu ihr herüberstarrte. Er trug einen indigoblauen Anzug und einen ebensolchen Zylinder. Sobald er jedoch bemerkte, dass Amy ihn gesehen hatte, eilte er davon.
    »Was tust du da, Kind?«, wollte Tante Hester wissen.
    Amy drehte sich um. »Nichts«, sagte sie und hatte den Fremden im selben Augenblick vergessen.
    »Warum trödelst du dann herum?« Tante Hester verdrehte die Augen. »Nun beweg dich schon!«
    Amy hievte den Koffer hoch, der vor ihr auf dem Kopfsteinpflaster stand. Puh, warum hatte sie nur so viel eingepackt? Mit vor Anstrengung hochrotem Kopf folgte sie ihrer Tante ins Haus.
    Das Erste, was Amy auffiel, war die ungeheure Stille. Wie ein lebendiges Wesen füllte sie das ganze Haus aus. Ein lauernder Jäger, der sich auf jedes noch so kleine Geräusch stürzen würde, um es zu verschlingen und damit diese unnatürliche Ruhe aufrechtzuerhalten. Amy schauderte. Es war, als hätte man ein Museum betreten. Nein, schlimmer noch: einen Friedhof. Und tatsächlich kam auch niemand angelaufen, um sie zu begrüßen.
    »Wer wohnt hier sonst noch?«, fragte Amy eingeschüchtert.
    »Nur wir zwei«, sagte Tante Hester.
    Amy sah sie ungläubig an. Ihre Tante war ungeheuer reich, und trotzdem hatte sie nicht einmal ein Hausmädchen?
    »Heutzutage kann man sich auf niemanden mehr verlassen«, sagte Hester, als hätte sie Amys Gedanken erraten. »Wenn man will,
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