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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief
Autoren: Lucie Klassen
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durch einen Türspalt sehen.
    Mein Herz begann warnend zu pochen, doch ich hörte nicht darauf. In der Kneipe unten herrschte Betrieb, zur Not konnte ich schreien. Die Chancen, gehört zu werden, standen nicht schlecht.
    Ich drückte den Klingelknopf, bevor mich mein Mut verlassen konnte.
    Einen Augenblick lang tat sich nichts.
    Dann hörte ich Schritte, die Sicherheitskette rasselte. Im nächsten Moment schwang die Tür auf.
    Ich zog die Brauen hoch.
    Der Kerl, der mir gegenüberstand, war eindeutig männlich. Aber dann endete die Ähnlichkeit mit meiner Pierce-Brosnan-Fantasie auch schon. Größer als ich schien er nur, weil er eine Stufe höher stand, dafür war er doppelt so alt wie ich, vielleicht vierzig. Die Haare, die der Typ noch hatte, waren so kurz geschoren wie sein Dreitagebart. Vermutlich stellte er den Rasierer auf drei Millimeter ein und benutzte ihn auch gleich als Kamm. Sein Rolli war schwarz, die ausgebeulte Jogginghose ebenfalls. Hätte ich seinen Beruf erraten sollen, hätte ich auf Rausschmeißer oder hauptberuflicher Rechtsradikaler getippt.
    Er musterte mich auf entmutigende Weise unbewegt: »Ja?«
    Erst in dem Moment erinnerte ich mich an die Rolle, die ich spielen wollte. Vor Schreck hatte ich das Gefühl, rot zu werden, was mir normalerweise nie passierte.
    »Onkel Max?«, begann ich mit meinem Auftritt, obwohl mir der erste Eindruck sagte, dass ich hier kaum eine Chance hatte.
    »Was ist los?«
    »Onkel Max! Sag nicht, du hast vergessen, dass ich heute komme? Ich bin Lila!«
    Der Mann runzelte die Stirn.
    »Na, da kann ich ja am Bahnhof warten, bis ich anfange zu schimmeln!«, plapperte ich weiter. »Jetzt lass uns hier nicht rumstehen! Mein Rucksack ist schwer, ich bin klitschnass und mein Magen knurrt seit drei Stunden!«
    Ich wollte mich an ihm vorbeidrängeln, doch er hielt mich mit einem schnellen Griff am Arm zurück: »Ich bin nicht Onkel Max und ich kenne dich nicht! Also verpiss dich!«
    »Was soll das heißen: Du bist nicht Onkel Max?«
    »Kannst du nicht lesen oder was?« Er deutete mit einem knappen Kopfnicken auf das Schild an der Tür.
    Ich tat, als entdeckte ich es erst jetzt.
    »Dein Name ist nicht Max Ziegler? Und deine Schwester heißt nicht Dorothea?«
    Er hielt es nicht für nötig zu antworten.
    »Aber ich hab doch deinen Brief bekommen!« Ich zerrte den Umschlag aus meiner Hosentasche. »Hier, ich hab ihn dabei!« Meinen Rucksack stellte ich auf der Türschwelle ab. »Da steht eindeutig Annastraße 28! Das ist doch hier, oder etwa nicht?«
    Der Detektiv warf einen kurzen Blick auf die Anschrift: »Bist du bescheuert, oder was? Beckum steht hier, nicht Bochum!«
    »Was?« Mit gespieltem Erstaunen nahm ich das Kuvert. Einen Augenblick lang betrachtete ich den Umschlag ungläubig.
    Dann biss ich mir auf die Unterlippe und probierte es mit einem himmelblauen Augenaufschlag: »Scheiße!«
    »Dann hätten wir das ja geklärt.« Er wandte sich ab und griff nach der Türklinke. »Du hast Glück, Ermittlungen unter fünf Minuten berechne ich nicht.«
    Ich dachte nicht daran, meinen Rucksack von der Türschwelle zu nehmen. »Und wo soll ich jetzt hin?«
    »Ist das mein Problem?«
    »Es ist schon fast sieben! Heute kriege ich keinen Zug mehr, außerdem hab ich keine Kröten für die Rückfahrt. Ich sitze hier fest!«
    »Dann such dir ein Hotel.«
    »Hörst du schwer? Ich hab kein Geld!«
    Er wollte die Tür zudrücken.
    Ich wischte mir durchs Gesicht.
    Er verdrehte die Augen: »In Gelsenkirchen gibt’s ein Obdachlosenasyl. Adresse steht im Telefonbuch.«
    Idiot!
    Na schön, ein letzter Versuch.
    Augenaufschlag, Schmollmund, zitternde Unterlippe: »Kann ich nicht hier bleiben? Du hast doch sicher ein Sofa und es ist ja nur für eine Nacht!?«
    »Hast du getrunken oder was? Ich lass doch nicht jeden Penner in meine Wohnung!« Er gab meinem Rucksack einen Tritt und knallend fiel die Tür ins Schloss.
    Mit dem Fuß stoppte ich mein Gepäck, damit es nicht die Treppe hinunterpolterte.
    Mist!
    Wie hatte ich mir einbilden können, dass mich ein Wildfremder wegen ein paar Krokodilstränen auf seinem Sofa übernachten ließ? Mein Augenaufschlag wirkte vielleicht bei alternden Englischlehrern, die meine selbst unterzeichneten Entschuldigungen durchgehen lassen sollten – aber nicht bei einem bekennenden Arschloch wie diesem Typen. In der Rekordzeit von nur zweieinhalb Minuten war es ihm gelungen, meine schöne Vorstellung vom ritterlichen Privatdetektiv wie eine Seifenblase über einem
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