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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief
Autoren: Lucie Klassen
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ab.
    »Mitkommen!«, befahl der Uniformierte. »Alle vier!«
    »Moment mal!«, protestierte ich empört. »Ich gehöre nicht zu denen!«
    »Dann zeig mal dein Ticket!«
    Ich begann ebenfalls in meinen Hosentaschen zu wühlen.
    Draußen schob sich der Bahnsteig vors Fenster.
    »Das Theater kannste dir sparen, Frolleinchen!«
    »Vorsicht!«, fuhr ich den Dicken an. »Ich bin über achtzehn, ich werde mich beschweren, wenn Sie mich duzen! Außerdem beschwere ich mich wegen Diskriminierung, denn die Anrede ›Fräulein‹ ist seit Jahrhunderten abgeschafft! Und wegen Verleumdung, denn das hier ist ja wohl eine Fahrkarte!«
    Der Zug kam mit einem Ruck zum Stehen.
    Ich winkte den Jungen hinter meinem Rücken, die Tür zu öffnen.
    »Hah!«, schnappte der Schaffner triumphierend. »Die war nur bis Bielefeld gültig!«
    »Das hier ist ja auch Bielefeld oder wollen Sie mir erzählen, wir hätten es in zwei Stunden bis Hongkong geschafft?«
    Er starrte mich an, als wollte ich ihn verarschen.
    Gut, wollte ich auch.
    Trotzdem schluckte er es: »Sitzen Sie auf den Ohren? Das hier ist Bochum!«
    »Tatsächlich? Da habe ich aber lange geschlafen!«
    Hinter mir ging mit einem leisen Zischen die Tür auf und die drei Jungen rannten, so schnell sie konnten, davon.
    Ich sprang weniger eilig aus dem Zug und winkte dem Schaffner noch mal freundlich zu, denn er konnte sich unmöglich schnell genug bewegen, um mich einzuholen.

2.
    So stand ich an einem düsteren Montagnachmittag im Eingang des Bochumer Hauptbahnhofes und starrte durch die Glastüren hinaus in den Regen. Um mich herum schlugen Menschen die Kragen ihrer Jacken hoch, spannten bunte Schirme auf und eilten zielstrebig davon.
    Ich blieb stehen.
    Die Häuserfront der Bochumer Innenstadt baute sich drohend wie eine Festung vor mir auf. Die Gebäude waren riesig, grau, mit spiegelnden Fensterfronten. Links außen erhob sich ein Wolkenkratzer mit an die fünfzehn Stockwerken, auf dessen Dach, dicht unter den tief hängenden Wolken, sich ein Mercedes-Stern drehte. Rechts von mir standen zwei ähnliche Klötze. Die Hochhäuser wirkten wie Wachtürme einer gewaltigen Ritterburg. Eine schmale Spalte in dieser Mauer führte in die Innenstadt.
    Ein Stück entfernt, mitten auf der Straße, entdeckte ich ein riesiges Stahlgebilde, das an einen Container erinnerte, der irgendwann aus dem Frachtraum eines Flugzeuges gestürzt war, sich senkrecht in den Asphalt gebohrt hatte und dort seit ein paar Jahrzehnten ungestört vor sich hin rostete.
    Was zum Teufel sollte ich hier?
    Ein bärtiger Mann, der sich die Kapuze seines gelben Regenmantels tief ins Gesicht gezogen hatte, schlurfte auf mich zu.
    Die Glastür, hinter der ich stand, öffnete bereits automatisch, während er noch drei leere Bierdosen in den überquellenden Mülleimer vor dem Eingang stopfte.
    Ein kalter Windstoß sprühte mir den Regen entgegen.
    Der Bärtige kam herein, zog eine zusammengefaltete Pappe unter seinem Regenmantel hervor und breitete sie auf dem Boden aus.
    Einen Moment lang sah ich zu, wie der Mülleimer draußen die Bierdosen wieder hochwürgte und in die Pfützen aufs Pflaster spuckte, wo der Wind sie davonrollte.
    Der Mann hockte sich neben mir auf den Boden. Er roch so ähnlich wie der Mülleimer und um seinen Hals baumelte ein selbst beschriftetes Schild, auf dem Obdachlos zu lesen war.
    Der feindselige Blick unter seinen wuchernden Augenbrauen sagte mir deutlich, dass er sein trockenes Plätzchen hier nicht mit mir teilen wollte. Dabei schien sein Regenmantel, im Gegensatz zu meiner alten, blauen Cordjacke, wasserdicht zu sein. Ich nahm allerdings nicht an, dass er mir glauben würde, dass wir seit ein paar Stunden Kollegen waren.
    Also trat ich hinaus in den Regen.
    Sofort spürte ich, wie die dicken, kalten Tropfen mir hart auf die Jacke prasselten, meine Haare durchschlugen und mir lila Strähnen ins Gesicht klebten.
    Wohin jetzt?
    Ich hatte keine Ahnung.
    Natürlich konnte ich wieder zurück in den Bahnhof. Irgendein Zug würde mich von hier wegbringen.
    Nur wohin?
    Dieser Ort war genauso gut wie jeder andere. Was nutzte es, ziellos von einem Zug in den nächsten zu steigen, wenn ich nicht wusste, wohin ich wollte?
    Zumindest würde hier sicher niemand nach mir suchen.
    Ich vergrub die Hände tief in den Taschen meiner Jacke und ging los.
    Geradeaus.
    Über eine vierspurige Straße hinweg, auf die schmale Schlucht zwischen den Betonwänden der Stadt zu.
    Außer mir war kaum jemand unterwegs. Ein paar
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