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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief
Autoren: Lucie Klassen
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vereinzelte Menschen hasteten mit gesenkten Köpfen und vorgehaltenen Schirmen in die Geschäfte.
    Ich lief in der Mitte der Fußgängerzone, ohne mich vor dem Regen zu schützen. Das wäre sowieso sinnlos gewesen.
    Hinter den beleuchteten Fenstern einer Eisdiele herrschte auch im Oktober Betrieb, das Licht war hell und warm, während die düsteren Wolken hier draußen für eine verfrühte Dämmerung sorgten.
    Ich brauchte eine Bleibe für die Nacht oder ich würde doch meinem Kollegen im Bahnhofseingang Gesellschaft leisten müssen. Aber ich besaß nur hundert Euro. Wenn ich mir ein Hotelzimmer nicht mit einer tausendköpfigen Kakerlakensippe teilen wollte, reichten hundert Euro für ungefähr drei Tage.
    Wie findet man Montagnachmittag in einer fremden Stadt ein möglichst kostenloses Dach über dem Kopf?
    Ratlos lief ich weiter, zwischen hohen Gebäuden hindurch, an beleuchteten Geschäften vorbei. Ein Platz tat sich auf, doch auch er war von steilen Häuserfronten umringt.
    Die Enge dieser Stadt hatte etwas Bedrohliches, das mich schneller gehen ließ.
    Der Regen schlug Blasen auf dem Pflaster, als ich den nächsten Platz erreichte. In seiner Mitte hockten einige gusseiserne Gestalten auf einer Bank. Ich schlich an ihnen vorbei, weiter geradeaus.
    Beinahe erleichtert stellte ich fest, dass ich die Innenstadt offenbar hinter mir gelassen hatte.
    Die Häuser wurden niedriger, die Straßen schmal, die Gehwege schmutzig. Unzählige Zigarettenkippen klebten neben Kaugummis, und dass das Pflaster des Fahrradweges einmal eine Farbe gehabt hatte, war nur noch zu erahnen.
    Im Eingang eines Erotiklokals wartete eine weitere Obdachlose darauf, dass der Regen nachließ. Die Frau ähnelte einer Wasserleiche: Ihr Gesicht war aufgedunsen und bleich, mit dunkelblauen Augenringen und Haaren, die an Seetang erinnerten. Ihre zitternden Finger tasteten nach dem Hals der halb leeren Bierflasche, die aus ihrer Tasche ragte.
    Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass sie nicht älter als ich selbst sein konnte. Mir lief ein Schauer über den Rücken, und das lag nicht am Regen, der meine Jacke allmählich durchweicht hatte.
    Noch konnte ich zurück.
    Vielleicht konnte ich mit Mama darüber reden, dass ich nicht studieren wollte? Dass ich einfach noch Zeit bräuchte? Vielleicht ein Jahr nach Amerika gehen oder so?
    Meine Mutter würde Selbstfindungsblabla vielleicht verstehen.
    Nein, würde sie nicht!
    Nicht zu studieren verstieß gegen alle Prinzipien meiner Eltern, die im Großen und Ganzen besagten, dass ihre Kinder mit fünfundzwanzig ein Diplom in der Tasche haben sollten und mit dreißig einen Doktortitel.
    Andererseits war ein Doktortitel besser als das Obdachlosenheim.
    Es würde mich nur eine Entschuldigung kosten.
    Verdammt, es kostete mich mehr!
    Ich könnte auch gleich auf Knien rutschend zugeben, dass jedes blau gefärbte Haar, jeder Joint, den ich geraucht, und jeder Heavy-Metal-Freak, mit dem ich auf dem Sofa meiner Eltern geschlafen hatte, umsonst gewesen war. Dass ich auf meine so lang ersehnte Freiheit schon beim Anblick der ersten Schwierigkeiten verzichtete und schnellstmöglich ins bequeme Nest zurückwollte.
    Nein!
    Und wenn ich im Bahnhofseingang übernachtete: Nein!
    Mit einem wütenden Ruck blieb ich stehen.
    Das Regenwasser lief mir aus den Haaren übers Gesicht in den Kragen meiner Jacke. Meine Hände und Füße spürte ich vor Kälte kaum noch. Und meinen blauen Rucksack hatte der Dauerregen dunkel gefärbt, mit Sicherheit war nichts vom Inhalt trocken geblieben.
    Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich einfach geradeaus gegangen war. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand.
    Im Licht der Straßenlaterne sah ich mich um.
    Die Straßenlaterne. Es war dunkel!
    Wann war das passiert?
    Hinter mir bewegte sich etwas!
    Erschrocken fuhr ich herum. In einem Kneipeneingang, kaum ein paar Meter von mir entfernt, stand schon wieder ein Penner. Er machte es sich auf einer mit dreckigen Fußspuren übersäten Matte bequem. Neben ihm ließen sich zwei große, weiße Hunde nieder und auf seinem Pappschild stand: Arbeitsloser Schäfer aus Ungarn braucht Futter für seine Tiere.
    In dem Augenblick stand mein Entschluss fest. Nur weil ich ohne eine trockene Unterhose vor einer schmuddeligen Kneipe in dieser trostlosen Stadt stand, würde ich nicht zu meinen Eltern zurückkriechen!
    »Ist dein Glückstag heute!«, sagte ich zu dem ungarischen Schäfer und drückte ihm den zerknitterten Hundert-Euro-Schein aus meiner
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