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Demokratie! - wofür wir kämpfen

Demokratie! - wofür wir kämpfen

Titel: Demokratie! - wofür wir kämpfen
Autoren: Campus
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und warten sollten, bis es soweit ist. Wir stehen vielmehr vor einer paradoxen Aufgabe: Wir müssen uns auf ein Ereignis vorbereiten, dessen Datum ungewiss ist.
    Das ist keineswegs so geheimnisvoll, wie es klingen mag. Nehmen wir uns ein Beispiel an den Architekten und Ideologen der heutigen neoliberalen Ordnung. Milton Friedman und die Wirtschaftswissenschaftler der Chicago School hatten die neoliberale Wirtschaftslehre entwickelt, Studierende unterrichtetund eine ganze neoliberale Wirtschaftspolitik samt ihren Institutionen entworfen, lange bevor erstmals die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen für ihre Umsetzung gegeben waren. Die erste Gelegenheit ergab sich mit dem Putsch des chilenischen Militärs unter Augusto Pinochet im September 1973. Naomi Klein schreibt, als sich die künftigen Putschisten Monate vor dem Coup mit der Bitte um ein Wirtschaftsprogramm an die »Chicago Boys« wandten, konnten diese schnell ein 500 Seiten starkes Handbuch zusammenstellen, das die notwendigen Schritte zur Einführung einer neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung à la Friedman erläuterte. Die Wirtschaftswissenschaftler mussten den Staatsstreich weder planen noch vorhersehen, doch als es dazu kam, waren sie vorbereitet. Klein schreibt weiter, in zahlreichen anderen Ländern sei die Umsetzung der neoliberalen Politik nach einem ähnlichen Muster abgelaufen: Ausgangspunkt war ein Unglück oder eine Katastrophe, und jedes Mal war eine fertige Anleitung zur Hand.
    Diese Beispiele zeigen, wie nützlich es sein kann, sich auf eine unvorhersehbare Gelegenheit vorzubereiten. Doch die Umstände, wie sie die Neoliberalen in Chile vorfanden, lassen sich nicht mit den unseren vergleichen: Ein demokratischer Umbau kann nicht durch einen Staatsstreich oder Militärputsch eingeleitet werden. Und das Subjekt, das ihn vorbereitet, ist keine geistige Elite oder Sekte wie die Chicago School, sondern die Multitude.
    Die Errungenschaften der Kämpfe, die im Jahr 2011 begannen, lassen sich vielleicht am besten als Teil dieser paradoxen Vorbereitung auf ein unvorhersehbares Ereignis verstehen. Die sozialen Bewegungen bereiten den Boden für ein Ereignis, das sie noch gar nicht absehen können. Ihre Grundsätze wie Gleichheit, Freiheit, Nachhaltigkeit und freier Zugang zu den Gemeingütern,können das Gerüst sein, mit dessen Hilfe sich im Falle eines radikalen gesellschaftlichen Bruchs eine neue Gesellschaft errichten lässt. Die neuen politischen Verfahrensweisen, mit denen diese Gruppen experimentieren – zum Beispiel Versammlungen, Methoden kollektiver Entscheidungsfindung oder Mechanismen zum Schutz und zur Teilnahme von Minderheiten – dienen als Orientierung für künftiges politisches Handeln. Aber wichtiger noch als ihre verfassungsmäßigen Grundsätze oder politischen Praktiken sind die neuen Subjekte, die diese Bewegungen hervorbringen: Subjekte, die neue demokratische Beziehungen wollen und in der Lage sind, diese zu leben. Die neuen sozialen Bewegungen schreiben heute ein Handbuch für den Aufbau einer neuen Gesellschaft.
    Wir haben in diesem Buch beschrieben, wie uns die Kräfte der Rebellion und des Widerstands erlauben, die schwachen Rollen zu überwinden, die uns die kapitalistische Gesellschaft in der gegenwärtigen Krise zuweist. In einer Bewegung des organisierten Widerstands können wir erkennen, was aus uns geworden ist, und einen neuen Weg einschlagen. Mit ihrer Hilfe können wir die Schuldenmoral und die von ihr erzwungene Arbeitsdisziplin abschütteln und die Ungerechtigkeit und Ungleichheit der Schuldengesellschaft ans Licht bringen; uns von den Bildschirmen losreißen und dem Bann der Medien entkommen; dem Joch der Überwachung entfliehen und uns dem allgegenwärtigen Blick des Regimes entziehen; und schließlich die Strukturen der Vertretung entlarven, die uns politisch die Hände fesseln.
    Rebellion und Widerstand bedeuten jedoch nicht nur Verweigerung: Sie setzen einen kreativen Prozess in Gang. Indem sie die eingeschränkten Subjekte der heutigen kapitalistischen Gesellschaft überwinden und ihr Potenzial freisetzen, eröffnen sieuns den Zugang zu unserer gesellschaftlichen und politischen Handlungsfähigkeit. Es entsteht eine profundere Schuld in Form einer sozialen Verpflichtung, die keine Gläubiger kennt. Im gemeinsamen Handeln der Singularitäten werden neue Wahrheiten geschaffen. Menschen, die sich aus der Angststarre befreien, schaffen echte Formen der Sicherheit. Und Menschen, die sich
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