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Demian

Demian

Titel: Demian
Autoren: Hermann Hesse
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was wichtig und Schicksal für mich war, konnte ihre Gestalt annehmen. Sie konnte sich in jeden meiner Gedanken verwandeln und jeder sich in sie.
    Auf die Weihnachtsfeiertage, in denen ich bei meinen Eltern war, hatte ich mich gefürchtet, weil ich meinte, es müsse eine Qual sein, zwei Wochen lang entfernt von Frau Eva zu leben. Aber es war keine Qual, es war herrlich, zu Hause zu sein und an sie zu denken. Als ich nach H. zurückgekommen war, blieb ich noch zwei Tage ihrem Hause fern, um diese Sicherheit und Unabhängigkeit von ihrer sinnlichen Gegenwart zu genießen. Auch hatte ich Träume, in denen meine Vereinigung mit ihr sich auf neue gleichnishafte Arten vollzog. Sie war ein Meer, in das ich strömendmündete. Sie war ein Stern, und ich selbst war als ein Stern zu ihr unterwegs, und wir trafen uns und fühlten uns zueinander gezogen, blieben beisammen und drehten uns selig für alle Zeiten in nahen, tönenden Kreisen umeinander.
    Diesen Traum erzählte ich ihr zuerst, als ich sie wieder besuchte.
    »Der Traum ist schön«, sagte sie still. »Machen Sie ihn wahr!« In der Vorfrühlingszeit kam ein Tag, den ich nie vergessen habe. Ich trat in die Halle, ein Fenster stand offen und ein lauer Luftstrom wälzte den schweren Geruch der Hyazinthen durch den Raum. Da niemand zu sehen war, ging ich die Treppe hinauf in Max Demians Studierzimmer. Ich pochte leicht an die Tür und trat ein, ohne auf einen Ruf zu warten, wie ich es gewohnt war. Das Zimmer war dunkel, die Vorhänge alle zugezogen. Die Türe zu einem kleinen Nebenraum stand offen, wo Max ein chemisches Laboratorium eingerichtet hatte. Von dorther kam das helle, weiße Licht der Frühlingssonne, die durch Regenwolken schien. Ich glaubte, es sei niemand da, und schlug einen der Vorhänge zurück.
    Da sah ich auf einem Schemel nahe beim verhängten Fenster Max Demian sitzen, zusammengekauert und seltsam verändert, und wie ein Blitz durchfuhr mich ein Gefühl: das hast du schon einmal erlebt! Er hatte die Arme regungslos hängen, die Hände im Schoß, sein etwas vorgeneigtes Gesicht mit offenen Augen war blicklos und erstorben, im Augenstern blinkte tot ein kleiner, greller Lichtreflex, wie in einem Stück Glas. Das bleiche Gesicht war in sich versunken und ohne anderen Ausdruck als den einer ungeheuren Starrheit, es sah aus wie eine uralte Tiermaske am Portal eines Tempels. Er schien nicht zu atmen.
    Erinnerung überschauerte mich – so, genau so hatte ich ihn schon einmal gesehen, vor vielen Jahren, als ich noch ein kleiner Junge war. So hatten die Augen nach innen gestarrt, so waren die Hände leblos nebeneinander gelegen, eine Fliege war ihm übers Gesicht gewandert. Und er hatte damals, vor vielleicht sechs Jahren, gerade so alt und so zeitlos ausgesehen, keine Falte im Gesicht war heute anders.
    Von einer Furcht überfallen ging ich leise aus dem Zimmer und die Treppe hinab. In der Halle traf ich Frau Eva. Sie war bleich und schien ermüdet, was ich an ihr nicht kannte, ein Schattenflog durchs Fenster, die grelle, weiße Sonne war plötzlich verschwunden.
    »Ich war bei Max«, flüsterte ich rasch. »Ist etwas geschehen? Er schläft, oder ist versunken, ich weiß nicht, ich sah ihn früher schon einmal so.«
    »Sie haben ihn doch nicht geweckt?« fragte sie rasch.
    »Nein. Er hat mich nicht gehört. Ich ging gleich wieder hinaus. Frau Eva, sagen Sie mir, was ist mit ihm?«
    Sie fuhr sich mit dem Rücken der Hand über die Stirn.
    »Seien Sie ruhig, Sinclair, es geschieht ihm nichts. Er hat sich zurückgezogen. Es wird nicht lange dauern.«
    Sie stand auf und ging in den Garten hinaus, obwohl es eben zu regnen anfing. Ich spürte, daß ich nicht mitkommen sollte. So ging ich in der Halle auf und ab, roch an den betäubend duftenden Hyazinthen, starrte mein Vogelbild über der Türe an und atmete mit Beklemmung den seltsamen Schatten, von dem das Haus an diesem Morgen erfüllt war. Was war dies? Was war geschehen?
    Frau Eva kam bald zurück. Regentropfen hingen ihr im dunkeln Haar. Sie setzte sich in ihren Lehnstuhl. Müdigkeit lag über ihr. Ich trat neben sie, beugte mich über sie und küßte die Tropfen aus ihrem Haar. Ihre Augen waren hell und still, aber die Tropfen schmeckten mir wie Tränen.
    »Soll ich nach ihm sehen?« fragte ich flüsternd.
    Sie lächelte schwach.
    »Seien Sie kein kleiner Junge, Sinclair!« ermahnte sie laut, wie um in sich selber einen Bann zu brechen. »Gehen Sie jetzt, und kommen Sie später wieder, ich kann jetzt nicht
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