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Demian

Demian

Titel: Demian
Autoren: Hermann Hesse
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mit Ihnen reden.«
    Ich ging und lief von Haus und Stadt hinweg gegen die Berge, der schräge dünne Regen kam mir entgegen, die Wolken trieben niedrig unter schwerem Druck wie in Angst vorüber. Unten ging kaum ein Wind, in der Höhe schien es zu stürmen, mehrmals brach für Augenblicke die Sonne bleich und grell aus dem stählernen Wolkengrau.
    Da kam über den Himmel weg eine lockere gelbe Wolke getrieben, sie staute sich gegen die graue Wand, und der Wind formte in wenigen Sekunden aus dem Gelben und dem Blauen ein Bild, einen riesengroßen Vogel, der sich aus blauem Wirrwarr losrißund mit weiten Flügelschlägen in den Himmel hinein verschwand. Dann wurde der Sturm hörbar, und Regen prasselte mit Hagel vermischt herab. Ein kurzer, unwahrscheinlich und schreckhaft tönender Donner krachte über der gepeitschten Landschaft, gleich darauf brach wieder ein Sonnenblick durch, und auf den nahen Bergen überm braunen Wald leuchtete fahl und unwirklich der bleiche Schnee.
    Als ich naß und durchblasen nach Stunden wiederkehrte, öffnete Demian mir selbst die Haustür.
    Er nahm mich mit sich in sein Zimmer hinauf, im Laboratorium brannte eine Gasflamme, Papier lag umher, er schien gearbeitet zu haben.
    »Setz dich«, lud er ein, »du wirst müde sein, es war ein scheußliches Wetter, man sieht, daß du tüchtig draußen warst. Tee kommt gleich.«
    »Es ist heute etwas los«, begann ich zögernd, »es kann nicht nur das bißchen Gewitter sein.«
    Er sah mich forschend an.
    »Hast du etwas gesehen?«
    »Ja. Ich sah in den Wolken einen Augenblick deutlich ein Bild.«
    »Was für ein Bild?«
    »Es war ein Vogel.«
    »Der Sperber? War er’s? Dein Traumvogel?«
    »Ja, es war mein Sperber. Er war gelb und riesengroß und flog in den blauschwarzen Himmel hinein.«
    Demian atmete tief auf.
    Es klopfte. Die alte Dienerin brachte Tee.
    »Nimm dir, Sinclair, bitte. – Ich glaube, du hast den Vogel nicht zufällig gesehen?«
    »Zufällig? Sieht man solche Sachen zufällig?«
    »Gut, nein. Er bedeutet etwas. Weißt du was?«
    »Nein. Ich spüre nur, daß es eine Erschütterung bedeutet, einen Schritt im Schicksal. Ich glaube, es geht uns alle an.«
    Er ging heftig auf und ab.
    »Einen Schritt im Schicksal!« rief er laut. »Dasselbe habe ich heute nacht geträumt, und meine Mutter hatte gestern eine Ahnung, die sagte das gleiche. – Mir hat geträumt, ich stieg eine Leiter hinauf, an einem Baumstamm oder Turm. Als ich obenwar, sah ich das ganze Land, es war eine große Ebene, mit Städten und Dörfern brennen. Ich kann noch nicht alles erzählen, es ist mir noch nicht alles klar.«
    »Deutest du den Traum auf dich?« fragte ich.
    »Auf mich? Natürlich. Niemand träumt, was ihn nicht angeht. Aber es geht mich nicht allein an, da hast du recht. Ich unterscheide ziemlich genau die Träume, die mir Bewegungen in der eigenen Seele anzeigen, und die anderen, sehr seltenen, in denen das ganze Menschenschicksal sich andeutet. Ich habe selten solche Träume gehabt, und nie einen, von dem ich sagen könnte, er sei eine Prophezeiung gewesen und in Erfüllung gegangen. Die Deutungen sind zu ungewiß. Aber das weiß ich bestimmt, ich habe etwas geträumt, was nicht mich allein angeht. Der Traum gehört nämlich zu anderen, früheren, die ich hatte und die er fortsetzt. Diese Träume sind es, Sinclair, aus denen ich die Ahnungen habe, von denen ich dir schon sprach. Daß unsere Welt recht faul ist, wissen wir, das wäre noch kein Grund, ihren Untergang oder dergleichen zu prophezeien. Aber ich habe seit mehreren Jahren Träume gehabt, aus denen ich schließe, oder fühle, oder wie du willst – aus denen ich also fühle, daß der Zusammenbruch einer alten Welt näher rückt. Es waren zuerst ganz schwache, entfernte Ahnungen, aber sie sind immer deutlicher und stärker geworden. Noch weiß ich nichts andres, als daß etwas Großes und Furchtbares im Anzug ist, das mich mit betrifft. Sinclair, wir werden das erleben, wovon wir manchmal gesprochen haben! Die Welt will sich erneuern. Es riecht nach Tod. Nichts Neues kommt ohne Tod. – Es ist schrecklicher, als ich gedacht hatte.« Erschrocken starrte ich ihn an.
    »Kannst du mir den Rest deines Traumes nicht erzählen?« bat ich schüchtern.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Nein.«
    Die Türe ging auf, und Frau Eva kam herein.
    »Da sitzt ihr beieinander! Kinder, ihr werdet doch nicht traurig sein?«
    Sie sah frisch und gar nicht mehr müde aus. Demian lächelte ihr zu, sie kam zu uns wie die
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