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Demian

Demian

Titel: Demian
Autoren: Hermann Hesse
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Gestaltung der Zukunft ob. Uns schien jedes Bekenntnis, jede Heilslehre schon im voraus tot und nutzlos. Und wir empfanden einzig das als Pflicht und Schicksal: daß jeder von uns so ganz er selbst werde, so ganz dem in ihm wirksamen Keim der Natur gerecht werde und zuWillen lebe, daß die ungewisse Zukunft uns zu allem und jedem bereit finde, was sie bringen möchte.
    Denn dies war, gesagt und ungesagt, uns allen im Gefühl deutlich, daß eine Neugeburt und ein Zusammenbruch des Jetzigen nahe und schon spürbar sei. Demian sagte mir manchmal: »Was kommen wird, ist unausdenklich. Die Seele Europas ist ein Tier, das unendlich lang gefesselt lag. Wenn es frei wird, werden seine ersten Regungen nicht die lieblichsten sein. Aber die Wege und Umwege sind belanglos, wenn nur die wahre Not der Seele zutage kommt, die man seit so langem immer und immer wieder weglügt und betäubt. Dann wird unser Tag sein, dann wird man uns brauchen, nicht als Führer oder neue Gesetzgeber – die neuen Gesetze erleben wir nicht mehr –, eher als Willige, als solche, die bereit sind, mitzugehen und da zu stehen, wohin das Schicksal ruft. Sieh, alle Menschen sind bereit, das Unglaubliche zu tun, wenn ihre Ideale bedroht werden. Aber keiner ist da, wenn ein neues Ideal, eine neue, vielleicht gefährliche und unheimliche Regung des Wachstums anklopft. Die wenigen, welche dann da sind und mitgehen, werden wir sein. Dazu sind wir gezeichnet – wie Kain dazu gezeichnet war, Furcht und Haß zu erregen und die damalige Menschheit aus einem engen Idyll in gefährliche Weiten zu treiben. Alle Menschen, die auf den Gang der Menschheit gewirkt haben, alle ohne Unterschied waren nur darum fähig und wirksam, weil sie schicksalbereit waren. Das paßt auf Moses und Buddha, es paßt auf Napoleon und auf Bismarck. Welcher Welle einer dient, von welchem Pol aus er regiert wird, das liegt nicht in seiner Wahl. Wenn Bismarck die Sozialdemokraten verstanden und sich auf sie eingestellt hätte, so wäre er ein kluger Herr gewesen, aber kein Mann des Schicksals. So war es mit Napoleon, mit Cäsar, mit Loyola, mit allen! Man muß sich das immer biologisch und entwicklungsgeschichtlich denken! Als die Umwälzungen auf der Erdoberfläche die Wassertiere ans Land, Landtiere ins Wasser warfen, da waren es die schicksalbereiten Exemplare, die das Neue und Unerhörte vollziehen und ihre Art durch neue Anpassungen retten konnten. Ob es dieselben Exemplare waren, welche vorher in ihrer Art als Konservative und Erhaltende hervorragten, oder eher die Sonderlinge und Revolutionäre, das wissen wirnicht. Sie waren bereit, und darum konnten sie ihre Art in neue Entwicklungen hinüber retten. Das wissen wir. Darum wollen wir bereit sein.«
    Bei solchen Gesprächen war Frau Eva oft dabei, doch sprach sie selbst nicht in dieser Weise mit. Sie war für jeden von uns, der seine Gedanken äußerte, ein Zuhörer und Echo, voll von Vertrauen, voll von Verständnis, es schien, als kämen die Gedanken alle aus ihr und kehrten zu ihr zurück. In ihrer Nähe zu sitzen, zuweilen ihre Stimme zu hören und teilzuhaben an der Atmosphäre von Reife und Seele, die sie umgab, war für mich Glück. Sie empfand es sogleich, wenn in mir irgendeine Veränderung, eine Trübung oder Erneuerung im Gange war. Es schien mir, als seien die Träume, die ich im Schlaf hatte, Eingebungen von ihr. Ich erzählte sie ihr oft, und sie waren ihr verständlich und natürlich, es gab keine Sonderbarkeiten, denen sie nicht mit klarem Fühlen folgen konnte. Eine Zeitlang hatte ich Träume, die wie Nachbildungen unsrer Tagesgespräche waren. Ich träumte, daß die ganze Welt in Aufruhr sei und daß ich, allein oder mit Demian, angespannt auf das große Schicksal warte. Das Schicksal blieb verhüllt, trug aber irgendwie die Züge der Frau Eva – von ihr erwählt oder verworfen zu werden, das war das Schicksal. Manchmal sagte sie mit Lächeln: »Ihr Traum ist nicht ganz, Sinclair, Sie haben das Beste vergessen –«, und es konnte geschehen, daß es mir dann wieder einfiel und ich nicht begreifen konnte, wie ich das hatte vergessen können.
    Zuzeiten wurde ich unzufrieden und von Begehren gequält. Ich meinte, es nicht mehr ertragen zu können, sie neben mir zu sehen, ohne sie in die Arme zu schließen. Auch das bemerkte sie sofort. Als ich einst mehrere Tage wegblieb und dann verstört wiederkam, nahm sie mich beiseite und sagte: »Sie sollen sich nicht an Wünsche hingeben, an die Sie nicht glauben. Ich weiß, was
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