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Delirium

Delirium

Titel: Delirium
Autoren: Lauren Oliver
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gebeten, niedergeschlagen und hierhergezerrt zu werden.« So habe ich noch nie mit Rachel gesprochen und ich sehe, dass sie überrascht ist. Sie reibt sich müde die Stirn und einen Augenblick lang blitzt die Rachel von früher auf – meine große Schwester Rachel, die mich mit Kitzelattacken gefoltert, meine Haare geflochten und sich beklagt hat, dass ich immer größere Portionen Eis bekam.
    Dann ist die Ausdruckslosigkeit zurück wie ein Schleier. Es ist unglaublich, wie ich das bisher immer einfach hingenommen habe, dass die meisten Geheilten durch die Welt gehen, als wären sie in einen dichten Umhang aus Schlaf gehüllt. Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst auch geschlafen habe. Erst als Alex mich aufgeweckt hat, habe ich angefangen klarzusehen.
    Eine Weile sagt Rachel nichts weiter. Ich habe ihr auch nichts zu sagen, also sitzen wir einfach da. Ich schließe die Augen und warte darauf, dass der Schmerz nachlässt, versuche dabei trotz der Schritte, gedämpften Ausrufe und des Fernsehers in der Küche Wörter im Stimmengewirr auszumachen, aber ich kann kein genaues Gespräch verstehen.
    Schließlich sagt Rachel: »Was ist heute Nacht passiert, Lena?«
    Als ich die Augen öffne, starrt sie mich wieder an. »Glaubst du, ich sag dir das?«
    Sie schüttelt kaum wahrnehmbar den Kopf. »Ich bin deine Schwester.«
    Â»Als ob dir das was bedeuten würde.«
    Sie zuckt etwas zurück, nur Zentimeter. Als sie erneut spricht, klingt ihre Stimme abweisend. »Wer ist es? Wer hat dich infiziert?«
    Â»Das ist die Frage des Abends, nicht wahr?« Ich drehe mich von ihr weg zur Wand, mir ist kalt. »Wenn du hergekommen bist, um mich auszuquetschen, verschwendest du deine Zeit. Dann kannst du auch gleich wieder nach Hause gehen.«
    Â»Ich bin hergekommen, weil ich mir Sorgen mache«, sagt sie.
    Â»Worum? Um die Familie? Um deinen Ruf?« Ich starre weiterhin stur die Wand an und ziehe mir die dünne Sommerdecke bis ans Kinn hoch. »Oder vielleicht machst du dir auch Sorgen, dass alle Leute denken werden, du hättest es gewusst? Vielleicht glaubst du, du wirst als Sympathisantin abgestempelt?«
    Â»Mach nicht so ein Theater.« Sie seufzt. »Ich mache mir Sorgen um dich. Du bist mir wichtig, Lena. Ich will, dass du immun bist. Ich will, dass du glücklich bist.«
    Ich drehe den Kopf, um sie anzusehen. Eine Welle aus Wut überspült mich – und etwas, das noch tiefer geht, Hass. Ich hasse sie; ich hasse sie dafür, dass sie mich anlügt. Ich hasse sie dafür, dass sie so tut, als sei ich ihr wichtig, sogar dafür, dass sie dieses Wort in meiner Gegenwart verwendet. »Du lügst«, stoße ich hervor. Und dann: »Du wusstest das mit Mom.«
    Diesmal fällt der Schleier. Sie zuckt noch ein Stück zurück. »Wovon redest du?«
    Â»Du wusstest, dass sie nicht … dass sie sich nicht umgebracht hat. Du wusstest, dass sie sie abgeholt haben.«
    Rachel sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du sprichst, Lena.«
    Und ich kann erkennen, dass ich mich wenigstens in diesem Punkt geirrt habe. Rachel weiß es nicht. Sie hat es nie gewusst. Ich bin erleichtert, und zugleich tut sie mir leid.
    Â»Rachel«, sage ich, sanfter. »Sie war in den Grüften. Sie ist die ganze Zeit über in den Grüften gewesen.«
    Rachel starrt mich einen langen Moment mit offenem Mund an. Dann steht sie abrupt auf und streicht ihre Hose glatt, als würde sie unsichtbare Krümel abstreifen. »Hör zu, Lena … Du hast einen ziemlich heftigen Schlag auf den Kopf bekommen.« Es klingt wieder so, als hätte ich das irgendwie selbst getan. »Du bist müde. Du bist verwirrt.«
    Ich widerspreche ihr nicht. Es hat keinen Sinn. Für Rachel ist es sowieso zu spät. Sie wird immer hinter der Mauer leben. Sie wird immer schlafen.
    Â»Du solltest versuchen dich etwas ausruhen«, sagt sie. »Ich hole dir noch Wasser.« Sie nimmt das Glas und geht dann auf die Tür zu. Das Deckenlicht schaltet sie aus. Sie bleibt noch einen Moment mit dem Rücken zu mir in der Tür stehen. Im trüben Gegenlicht aus dem Flur sieht ihre Gestalt ganz schwarz aus, so dass sie wirkt wie ein Schattenmensch, eine Silhouette.
    Â»Weißt du, Lena«, sagt sie schließlich und dreht sich noch mal zu mir um, »es wird besser. Ich weiß, dass du wütend bist.
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