Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Delia, die weisse Indianerin

Delia, die weisse Indianerin

Titel: Delia, die weisse Indianerin
Autoren: Marie Louise Fischer
Vom Netzwerk:
verflechten, mit glatter Rinde bedecken.
    Der Stamm, zu dem Delia geraten war, bestand aus Prärie-Indianern, die von den weißen Eindringlingen aus ihrem ursprünglichen Heimatgebiet vertrieben waren und in dem unzugänglichen Urwald Schutz gesucht hatten. Freilich – wenn ein Teil des Stamms nach entfernten Gebieten loszog, dann führten sie Zelte mit, in denen sie unterwegs wohnten, leuchtend gelbe Tipis ...
    Delia schlenderte zu dem freien Platz und sah sehnsüchtig den Spielen der Jungen zu. Wie gern hätte sie mitgemacht! Aber sie getraute sich nicht, auch nur den Versuch zu machen, nicht allein weil sie sich als Gefangene fühlte, sondern weil diese Indianerjungen viel, viel flinker waren und schneller rennen konnten, als sie es je vermocht hätte.
    Ein schlanker brauner Junge, einen Kopf größer als sie, schien der unbestrittene Anführer der Horde zu sein. Er trug das blauschwarze Haar zu einem Schopf zusammengebunden, in dem eine Adlerfeder steckte – kein einziger der anderen Jungen hatte das Haar auf diese Weise geschmückt.
    Delia schloss daraus, dass er ein Häuptlingssohn sein musste. Er hatte lange, muskulöse Beine, schmale Hüften und breite Schultern. Sein braunes Gesicht war edler geprägt als das seiner Kameraden, seine dunklen, fast schwarzen Augen verrieten Intelligenz und Energie.
    Jetzt schallte seine Stimme gebieterisch über den Platz, und alle Jungen liefen zu ihm hin. Unter seiner Führung begab sich die ganze Horde zum Waldrand. Der Mops lief hinter ihnen her, und Delia war froh, einen Anlass zu haben, sich in einiger Entfernung anzuschließen.
    Die Jungen drangen in das Dickicht ein. Als Delia sie erreichte, sah sie, dass sie sich um eine hohe Buche versammelt hatten. Der Häuptlingssohn gab einen kurzen Befehl, und jetzt begriff Delia, um was es ging. Einer der Jungen trat vor und versuchte, den glatten Stamm zu erklettern. Er schaffte einige Meter, dann rutschte er wieder herunter. Der nächste Junge trat an. Einer nach dem anderen unternahm den gleichen Versuch, mit ungleichem Ergebnis, aber niemand von ihnen erreichte die Baumkrone – auch daraus hätte Delia ersehen können, dass sie nicht in einen Stamm echter Waldindianer geraten war.
    Als Letzter unternahm der Häuptlingssohn die Klettertour, und er, als Einziger, schaffte es. Delia freute sich darüber, denn sie hatte ihm, wie keinem anderen, Däumchen gehalten. Jetzt schwang er sich hoch oben im Wipfel und rief den anderen etwas zu. Delia, die seine Sprache ja nicht verstand, wusste nicht, ob er seine Kameraden verspottete oder sie anfeuern wollte, es ihm gleichzutun.
    Aber jetzt besann sie sich nicht länger. Es hatte ihr schon die ganze Zeit in allen Gliedern gejuckt, den Indianerjungen ihre Kletterkünste vorzuführen. Endlich war die Gelegenheit gekommen.
    Sie lief zu dem glatten Stamm, zog sich mit den Händen hoch, umklammerte ihn mit den Beinen und begann fachgerecht hinaufzuklimmen, wie sie es von Kaspar, dem Zirkusjungen, gelernt hatte.
    Die Jungen unten wurden plötzlich mäuschenstill, aber Delia achtete nicht darauf. Ihre einzige Angst war, dass sie sich blamieren, an dem glatten Stamm den Halt verlieren und kläglich wieder herabrutschen könnte.
    Aber gelernt ist gelernt. Delia erreichte die Höhe, konnte einen Ast ergreifen und sich hinaufschwingen. Stolz und mit glühenden Wangen lächelte sie den Häuptlingssohn an, der sie mit größter Gelassenheit beobachtet hatte. Er erwiderte ihr Lächeln nicht. Dennoch ließ Delia sich nicht entmutigen.
    »Ich heiße Delia“, sagte sie langsam und deutlich und tippte sich dabei auf die Brust.
    Der Häuptlingssohn schwieg.
    »Warum sprichst du nicht mit mir?“ fragte Delia, die den Dingen endlich auf den Grund kommen wollte.
    Der Indianerjunge sah sie lange an, mit dem gleichen seltsamen Blick, mit dem auch das große Mädchen sie am Morgen gemustert hatte. Dann sagte er, langsam und klar verständlich auf Englisch: »Du ... Gefangener!“
    »Aber ... ich habe euch doch nichts getan!“
    »Du ... feindliches Bleichgesicht!“
    »Das stimmt ja gar nicht!“ rief Delia. »Ich ... Freund von Indianern!“
    Der Indianerjunge schüttelte den Kopf. »Bleichgesichter haben Kriegsbeil ausgegraben. Auf friedliche Iowanokas geschossen!“
    Delia begriff aus dieser Antwort zweierlei: erstens, dass die Indianer sich angegriffen gefühlt hatten, weil die Einwanderer auf Befehl von Onkel Johannes in die Luft geschossen hatten, vielleicht auch nur, weil trotzdem einer von ihnen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher