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Delhi Love Story

Delhi Love Story

Titel: Delhi Love Story
Autoren: Swati Kaushal
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schmiedeeisernen Tor von Heritage City in Delhis Vorstadt Gurgaon hält. Ma dreht die verrostete Fensterkurbel und die Nachmittagsluft strömt ins Innere des Wagens wie in einen Airbag. Mit ungebrochener Begeisterung hält sie ihr Gesicht in den Luftstrom.
    »Was für eine nette Wohnanlage, Ann!«
    Ich schaue mir die in der Nachmittagssonne goldgelb leuchtenden Gebäude an und spüre, dass mein Mund trocken wird. Die Fahrt hierher hat ewig gedauert, und jetzt ist es, als stünden wir an einem Abgrund und hinter uns tobe ein Feuer: Es gibt kein Zurück mehr.
    »Block D, 414«, ruft Ma dem Mann vom Sicherheitsdienst an der Einfahrt zu. »Familie Vermas.«
    Langsam fährt das Taxi weiter. Der Knoten in meinem Magen zieht sich enger zusammen, während der Rasen verschwimmt und die Straße die Form einer tiefen Schlucht annimmt. Block A, Block B, Block C …
    »Schau, Ann, hier ist es! Block D! Da oben im vierten Stock muss ihr Balkon sein! Kaum zu glauben, dass wir wirklich hier sind! Nach all den Jahren sehen wir sie endlich wieder! Tara und Sunny, und den lieben kleinen Keds!«
    Den lieben kleinen Keds.
    Bei unserem ersten Besuch war er sechs Jahre alt gewesen, groß und schmal in seinen roten Shorts und seinem Micky-Maus-T-Shirt. Bei einem Ausflug in den Zoo sahen wir einen weißen Tiger. Er brüllte und Keds machte sich
in die Hosen. Seine Wangen waren tränenverkrustet, die roten Shorts voll dunkler Streifen, und wir bekamen jeder zwei Kugeln Eis.
    Beim nächsten Besuch war er acht, ich war sieben dreiviertel. An einem glühend heißen Nachmittag gingen wir ins Eisenbahnmuseum und kamen beide mit Erkältungen zurück. In Appu Ghar prügelten wir uns zum ersten Mal im Dreck, er schlug mir auf die Lippe und es blutete stark. Ich bekam zwei Kugeln Eis, er keine.
    Das nächste Mal nahmen sie uns zum Go-Kart-Fahren mit. Wir waren zehn und beinahe zehn, zu alt für diesen Kinderkram. Die Kartbahn war ausgestorben, die Cola warm. Eis gab es nicht.
    Zum letzten Mal waren wir vor vier Jahren zu Besuch. Wir besichtigten den Lotustempel, das Rote Fort, die Jama Masjid und eine der Jantar-Mantar-Anlagen. Und an einem drückend heißen Septembertag, dem letzten vor unserer Abreise, gingen wir zum Badhkal Lake.
    Keds und ich waren an jenem Nachmittag auf dem Hügel. Kaum hatten unsere Eltern die Picknickdecken herausgeholt und gefragt, wer Lust auf Frisbee-Spielen hätte, hatten wir die Schuhe fester geschnürt und waren durch das verbrannte Dickicht geflohen.
    An diesem ersten September war die Hitze sehr stark. Nach wochenlangem Regen war es aus dem Nichts brütend heiß geworden. Die Sonnenstrahlen fühlten sich an wie heißer Dampf. Die Luft zitterte. Der knapp hundert Meter unter uns liegende See wirkte verschwommen. Keds und ich stritten darüber, ob der See die Felsen hinaufgekrochen komme oder ob das nur so aussehe. Wir
stellten uns vor, wie die trockenen Zweige unter unseren Füßen verbrannten und Kaskaden von Feuerfunken in den See hinuntersprangen, während wir den Berg hinaufkeuchten und uns die Knie an scharfen Steinen aufrissen. Wir waren uns einig, dass niemand außer unseren Eltern so verrückt war, an einem Tag wie diesem ein Picknick zu veranstalten.
    Als wir auf dem kleinen Grasstück ganz am Rand des Abhangs standen, blickte Keds über die Klippen hinunter zum See. »Das könntest du nie«, forderte er mich heraus.
    Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und blickte die felsigen Klippen hinunter. In der Tiefe erschienen sie dunkelbraun und verschwommen. »Wart’s mal ab«, antwortete ich.
    Er verband mir die Augen mit einem Tuch. Die Hitze legte sich wie ein Angorapullover um meinen Kopf, drang in meine Ohren, brannte rot hinter meinen Augenlidern.
    »Los«, flüsterte er mir ins Ohr.
    Ich machte vorsichtige Schritte. Ich erinnerte mich, dass der Abgrund noch ein paar Meter entfernt gewesen war. Zehn Schritte, zwölf, fünfzehn.
    »Weiter.«
    Ich streckte die Arme aus.
    »Du kommst immer näher ran.«
    21, 22, keine Angst, 23, …
    »Halt.«
    Ich zerrte am Tuch über den Augen.
    »Hey, nicht so schnell.«
    Ich hörte auf, spürte die Hitze, orientierungslos.

    »Und jetzt lauf!«
    »Wie bitte?«
    »Lauf los!«
    Er wollte, dass ich mit verbundenen Augen bis zum Abgrund rannte. Dorthin, wo jederzeit ein Stück Fels herausbrechen und 100 Meter nach unten stürzen könnte.
    »Lauf!«, rief er.
    Ich hätte es tun können. Hätte mit verbundenen Augen auf den Abgrund zulaufen können. In dieser Hitze war ich
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