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Delhi Love Story

Delhi Love Story

Titel: Delhi Love Story
Autoren: Swati Kaushal
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ein Idiot war. Es gab Millionen Gründe. Dann entdeckte Jessica ein Hirschkalb. Es stand am anderen Ufer des Sees, halb von Bäumen verdeckt. Sobald es uns bemerkte, wurde es ganz steif. Einen kurzen Moment leuchteten seine Augen auf wie goldene Bernsteine. Wir starrten es an und wagten nicht zu atmen. Dann rannte es fort.
    Der letzte Winter war gut und hart. Einer jener Winter, in denen es bis minus 30 Grad kalt wird, die Nasenhaare zusammenfrieren, jeder in dicken Parkas mit Fellkapuzen herumläuft und es völlig in Ordnung ist, auf der Straße nie zu lächeln. Die Kälte war so angenehm. Solange sie andauerte, war alles ein bisschen erträglicher. Doch im April schmolz der Schnee und konnte nichts mehr zudecken.
    Ich vermisste ihn. Ich vermisste seine Hände. Die Hände des neuen pakistanischen Kassierers im Supermarkt waren wie seine: dunkel, breit, kantig, mit markanten Knöcheln. Auf seinen Fingern wuchs dunkles, drahtiges Haar in Büscheln. Noch zu Hause musste ich
an diese Hände denken. Im Spiegel sah ich die dichten Augenbrauen meines Vaters. Mit der Pinzette meiner Mutter zupfte ich so lange an ihnen herum, bis auf der geröteten Haut nur noch dünne Linien zu sehen waren.
    Seine Augen waren so dunkel gewesen. Schwarz und glänzend wie Lackleder. Sie blickten mich immer voll grenzenloser Liebe an und ich erkannte mein funkelndes Spiegelbild in ihnen. Selbst durch seine Brille hindurch, sofern er sie trug. Einmal fand ich sie in der Gefriertruhe, festgefroren an den Enchiladas. Er liebte diese labbrigen Dinger. Ich weiß noch, wie er sie eines Tages zu lange in der Mikrowelle erwärmt hatte und ein Spritzer Sauce sich wie ein Wurm seinen Unterarm entlangschlängelte – vorbei an dem Streifen heller Haut, der vom Armband seiner Uhr stammte, das er immer viel zu fest zog. Ich nannte ihn sein »Livestrong-Armband«.
    Im letzten Jahr wurde er immer dünner. Das Kinn schmaler, die Wangen hohl, das Gesicht faltiger. Das Lachen wurde zu einem Husten, die Falten wurden tiefer, aber die Mimik blieb lebhaft. Er lebte .
    Dann hatte sich unser Leben mit einem Schlag geändert. Und jetzt ziehen wir um.
    »Ist es nicht aufregend, Ann?«
    Ich öffne die Augen. Ma sitzt auf der schattigen Seite der Rücksitzbank, sie trägt ihre Sonnenbrille, das Haar zum Knoten geschlungen. Wäre ihr Handgelenk näher an meinem Gesicht, dann könnte ich bestimmt ihr Parfum riechen, das nach Orange und Ingwer duftet.

    »Diese Geschäftigkeit«, sagt sie und deutet mit ihrer duftenden Hand auf das Chaos draußen, »diese Zielstrebigkeit, all die neuen Möglichkeiten?«
    Ich antworte, das sei sehr aufregend.
    »Schau dir mal diese Straßenüberführung an! Und all die Geschäfte! Und hier, Ann, noch ein Wohnhaus!«
    Ich blicke durch das Fenster hinauf zu einem weiteren Wolkenkratzer. Wie ein Leuchtturm ragt er zwischen engen Reihen winziger Häuser hervor. Er besteht aus dunklem Glas und Metall und sieht aus wie ein Hollywoodstar. Auf einem metallenen Schild ist eingraviert: Garden Villa.
    »Ist es nicht unglaublich, wie schnell Delhi größer wird? Wie ein Teenager!«
    Ich schaue mir die brütend heiße Stadt an. Laut Ma begann sie 2000 Jahre nach ihrer Gründung plötzlich, rasant zu wachsen.
    »Weißt du, Ann, du wirst dich hier wohlfühlen. Heute gibt es in Delhi viele westliche Annehmlichkeiten. Und alle sind sportverrückt, es ist kaum zu glauben. Tennis, Schwimmen – und dann ist da noch dieser neue Golfplatz, über den alle sprechen!«
    Ich erinnere sie daran, dass Golf die einzige Sportart ist, die mich nicht interessiert.
    »Jetzt vielleicht noch nicht. Ach, es wird einfach wunderbar werden. Nächste Woche um diese Zeit könnten wir schon in unserer neuen Wohnung sein. Stell dir das mal vor!«
    Ich gebe mir alle Mühe, genau das nicht zu tun.

Zwei
    Fünf Häuser in einem Halbkreis bildeten das Ende der Stichstraße in Eden Prairie. Sie standen dort wie an einer Kette aufgefädelt. Wenn das Postauto von rechts nach links an den Häusern vorbeifuhr, kam es zuerst bei den Lindstroms, dann bei den Harrises, den Bowmans und den Jensens vorbei, und schließlich bei den Rais. Die Häuser im Kolonial- und Tudor-Stil waren alle mit Ziegeln gedeckt, gepflegt und in dezenten Farben gehalten. Vor jedem Haus leuchtete grün ein ordentlich gemähter Rasen.
    Sonntags abends stellten wir die blauen Mülltonnen entlang der Straße auf. Im Sommer blieben Jess, Jaime und ich noch draußen und spielten in der Auffahrt Basketball. Unsere Eltern
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