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Deine Juliet

Deine Juliet

Titel: Deine Juliet
Autoren: Annie Mary Ann / Barrows Shaffer
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denn Kartoffeln und Rüben gab es reichlich, und damals gab es auch noch Mehl. Aber komisch, wie Essen das Denken beherrschen kann. Nach sechs Monaten Rüben und ab und zu einem Happen knorpeligem Fleisch konnte ich kaum noch an etwas anderes denken als an eine schmackhafte, vollständige Mahlzeit.
    Eines Nachmittags schickte mir meine Nachbarin Mrs.   Maugery einen Zettel. Kommen Sie schnell, stand da. Und bringen Sie ein Schlachtermesser mit. Ich habe versucht, mir keine großen Hoffnungen zu machen, bin aber in Windeseile zu ihr gesaust. Und wahrhaftig! Sie hatte ein Schwein, ein verstecktes Schwein, und sie lud mich ein, mit ihr und ihren Freunden ein Festmahl zu teilen!
    Ich habe als Heranwachsender nicht viel gesprochen – ich habe fürchterlich gestottert – und war nicht an Essenseinladungen gewöhnt. Ehrlich gesagt, das Essen bei Mrs.   Maugery war das erste, zu dem ich je eingeladen wurde. Ich habe zugesagt, weil ich an den Schweinebraten dachte, aber am liebsten wäre es mir gewesen, ich hätte mein Stück mit nach Hause nehmen und es dort essen können.
    Es war mein großes Glück, dass mein Wunsch nicht in Erfüllungging, denn dies war die Geburtsstunde des Clubs der Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf, auch wenn wir es da noch nicht wussten. Das Essen war ein seltenes Festmahl, aber die Gesellschaft war noch besser. Beim Reden und Essen haben wir die Zeit und die Ausgangssperre völlig vergessen, bis Amelia (das ist Mrs.   Maugery) die Glocken neun Uhr schlagen hörte – wir waren eine Stunde zu spät. Das gute Essen hatte uns gestärkt, und als Elizabeth McKenna sagte, wir sollten zu unseren rechtmäßigen Häusern aufbrechen, statt uns die ganze Nacht in Amelias Wohnzimmer herumzudrücken, stimmten wir zu. Aber gegen die Ausgangssperre zu verstoßen war ein Verbrechen – ich hatte von Leuten gehört, die dafür ins Gefangenenlager geschickt worden waren   –, und ein Schwein zu halten war ein noch schlimmeres, deswegen haben wir geflüstert und sind durch die Felder zurückgegangen, so leise es ging.
    Es wäre gutgegangen, wenn John Booker nicht gewesen wäre. Er hatte während der Mahlzeit mehr getrunken als gegessen, und unterwegs vergaß er sich und stimmte ein Lied an! Ich packte ihn, aber es war zu spät: Plötzlich kamen sechs deutsche Soldaten mit gezückten Pistolen aus dem Gebüsch und schrien – wieso wir nach der Sperrstunde draußen seien? Wo wir herkämen? Wo wir hinwollten?
    Ich wusste nicht, was tun. Wäre ich gerannt, hätten sie mich erschossen. So viel war mir klar. Mein Mund war trocken wie Kreide, und in meinem Kopf herrschte Leere, deshalb habe ich mich nur an Booker geklammert und gehofft, dass es gutginge.
    Dann holte Elizabeth tief Luft und trat vor. Elizabeth ist nicht groß, deshalb waren die Pistolen auf Höhe ihrer Augen, aber sie hat noch nicht einmal geblinzelt. Sie tat, als sähe sie die Pistolen gar nicht. Sie trat vor den verantwortlichen Offizier und fing an zu reden. Nie hat man solche Lügen gehört. Wie leid es ihr tue, dass wir gegen die Ausgangssperre verstoßen hätten. Wir hätten an einer Zusammenkunft des Literaturclubs teilgenommen, und das Gespräch über
Elizabeths deutscher Garten
sei so fabelhaft gewesen, dass wir die Zeit vergessen hätten. Ein ganz wunderbares Buch – ob er es gelesen habe?
    Keiner von uns hatte die Geistesgegenwart, ihr beizuspringen, aber der verantwortliche Offizier konnte nicht anders, er musste sie anlächeln. So ist Elizabeth. Er notierte unsere Namen und wies uns sehr höflich an, uns am Morgen beim Kommandanten zu melden. Dann verbeugte er sich und wünschte uns einen guten Abend. Elizabeth nickte so anmutig, wie man es sich nur vorstellen kann, während wir Übrigen uns verdrückten, bemüht, nicht zu rennen wie die Hasen. Obwohl ich Booker mitschleifte, war ich schnell zu Hause.
    Das ist die Geschichte von unserem Schweinebraten.
    Nun möchte ich Ihnen gerne eine Frage stellen. Jeden Tag laufen Schiffe im Hafen von St.   Peter Port ein und bringen uns Waren, an denen es auf Guernsey immer noch fehlt: Lebensmittel, Kleidung, Samen, Pflüge, Tierfutter, Werkzeug, Medikamente – und das Wichtigste, nachdem wir nun zu essen haben, Schuhe. Ich glaube, bei Kriegsende gab es auf der Insel kein einziges vollständiges Paar mehr.
    Manche Waren, die uns geschickt werden, sind in alte Zeitungen oder in Seiten aus Illustrierten gewickelt. Mein Freund Clovis und ich streichen sie glatt und nehmen sie
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