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Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Alex Berg
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lang verzweifelt verschlossen gehalten hatte. Die Schrecken, Schuldgefühle und Ängste ihrer Jugend hatten sie überrollt, waren eins geworden mit ihrer Verzweiflung und Trauer um ihr Kind, bis sie nicht mehr wusste, was Einbildung und was Realität war. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten, war geflohen, und erst hier in der schwedischen Bergwelt war sie zur Ruhe gekommen. Hier, wo alles begonnen hatte.
    Thomas hätte ihr nicht folgen dürfen. Er brachte Erinnerungen mit, düstere Bilder, die sie nicht mehr sehen wollte, nicht mehr ertrug, die lebendig wurden, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Um sie herum verschwamm der Raum, und sie war wieder in Hamburg. Regen peitschte ihr ins Gesicht, Nässe und Kälte drangen in ihre Schuhe, weichten sie auf und lösten die rostroten Flecken auf dem Leder, während sie ziellos durch die schlafende Stadt irrte, getrieben von der bitteren Erkenntnis, dass sie alles zerstört, alle Brücken unwiderruflich hinter sich eingerissen hatte.
    Sie schrak auf, als der Hund ihr seine Schnauze in die Seite stieß, und zwang sich aufzustehen. Thomas saß noch immer auf der Couch und betrachtete sie. Als ihre Blicke sich trafen, stand er auf und kam auf sie zu. Schweigend legte er ihr die Hände auf die Schultern und zog sie an sich, als spüre er ihre innere Zerrissenheit. Widerstandslos ließ sie es geschehen, fühlte den rauhen Wollstoff seines Sakkos unter ihrer Wange und hörte sein Herz schlagen. Er hatte ein kräftiges, ein starkes Herz.
    »Komm zurück, Caroline.«
    Für einen kurzen Augenblick wollte sie der Versuchung nachgeben, einfach tun, als ob nichts geschehen wäre. Caroline unterdrückte die Tränen, die in ihr aufstiegen. »Ich kann nicht«, flüsterte sie kaum hörbar.
    Seine Lippen berührten flüchtig ihr Haar. »Warum?«
    Sie blieb ihm die Antwort schuldig.
    Er ließ sie los, und sie trat einen Schritt zurück. Der Raum schien mit einem Mal zu klein für sie beide. Die Illusion von Nähe, die sie Augenblicke zuvor noch gespürt hatte, war verflogen und das Schweigen erdrückend. Im Kamin sackten die Scheite ineinander, und Funken stoben knisternd auf. Das Geräusch ließ sie beide zusammenfahren. Caroline rieb sich nervös die Hände. »Es ist schon spät«, sagte sie.
    »Gleich halb elf«, bestätigte Thomas mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Zeit, aufzubrechen.« Er griff nach seiner Jacke, die er über die Lehne des Sofas gelegt hatte. »Ich habe ein Hotelzimmer in Tannas reserviert.«
    »Nach Tannas ist es mehr als eine Stunde Fahrt«, entfuhr es ihr.
    »Die Auswahl an Hotels in dieser Gegend ist mehr als überschaubar«, bemerkte er trocken.
    Caroline gab sich einen Ruck. »Es ist vernünftiger, wenn du hierbleibst.«
    Thomas ließ überrascht seine Jacke sinken. »Willst du das wirklich?«
    Nein, wollte sie antworten. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er ging. Er gehörte nicht hierher. Nicht in dieses Haus. Zwischen all den Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend erschien er ihr wie ein Fremdkörper. Doch die Strecke nach Tannas war berüchtigt für ihren Wildwechsel. Die Routen der Rentiere und Elche kreuzten sie an mehreren Punkten, und die Tiere waren bevorzugt nachts unterwegs.
    »Ich beziehe dir das Bett im Gästezimmer«, sagte sie deshalb, ohne weiter auf seine Frage einzugehen.
    Der Hund stand von seinem Platz vor dem Feuer auf und reckte sich. Unschlüssig wanderte sein Blick von Caroline zu Thomas, bevor er zwischen ihnen hindurch zu seinem Wassernapf neben dem Kühlschrank ging. Seine Krallen kratzten dabei über die gewachsten Holzdielen – ein Geräusch, das Caroline plötzlich eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
    »Caroline?« Thomas machte einen Schritt auf sie zu.
    »Schon gut«, wehrte sie ab und atmete gegen die Übelkeit an, die sie unverhofft verspürte. »Alles gut.«
    Was für eine Lüge. Nichts war gut.
    »Du bist ganz blass.«
    Sie sah in sein erschrockenes Gesicht. »Es ist nichts«, bekräftigte sie.
    Sie wandte sich ab, um Bettwäsche aus einem der Schränke im Flur zu nehmen. Als sie die Tür öffnete, verharrte sie einen Moment, die Stirn gegen das Holz gepresst, um sich zu sammeln. Es ist nichts, wiederholte sie still zu sich selbst. Noch immer fahrig, zog sie den Bezug über das Kopfkissen.
    *
    Sie konnte nicht schlafen. Natürlich nicht. Reglos verfolgte sie jeden Laut aus dem Nebenzimmer. Das Haus war hellhörig. Schon als Kind hatte sie oft im Bett gelegen und auf das leise Getuschel ihrer Eltern im
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