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Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Alex Berg
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Tante konnte Caroline sich verlassen. Wie hatte er sie trotzdem gefunden? Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt. Früher hatte ihr Thomas’ Hartnäckigkeit imponiert. Das Wort Niederlage existierte nicht in seinem Wortschatz. Jetzt machte genau diese Hartnäckigkeit sie nervös. Was sollte sie ihm sagen? Wie sollte sie das Chaos, das in ihr tobte, in eine verständliche Sprache übersetzen? Den Schmerz, das Entsetzen, die Angst? Sie war fortgelaufen, weil ihr eben diese Sprache fehlte. Sie brauchte Zeit. Abstand. Warum akzeptierte er das nicht?
    Während sie noch mit sich und ihrem Schicksal haderte, hielt draußen in der Einfahrt ein Auto mit deutschem Kennzeichen.

    Der Hund freute sich unbändig, als er Thomas erkannte. Caroline stand im Schatten der Veranda und beobachtete von dort die ausgelassene Begrüßung. Ihr Herz klopfte, als Thomas schließlich aufblickte und sie entdeckte. Er sah müde aus. Die Sorge hatte sich in seine hageren Züge eingegraben und ließ ihn älter erscheinen. Ernster. Und wieder schämte sie sich. Sie hatte ihn zurückgelassen, wie man ein ausgedientes Stofftier zurücklässt, dem man entwachsen ist. Sie bemerkte den Schmerz in seinem Gesicht, als er begriff, wie weit sie sich in den vergangenen drei Wochen von ihm und ihrem gemeinsamen Leben entfernt hatte. Ungläubig betrachtete er ihre ausgebeulten Jeans, den alten, viel zu großen Pullover ihres Vaters und ihr achtlos in einem Pferdeschwanz zusammengefasstes blondes Haar. Wie konnte er auch wissen, dass sie nie wirklich die Frau für das kleine Schwarze, für Pumps und ein elaboriertes Make-up gewesen war? Sie hatte diese Rolle eine Weile gespielt, weil sie meinte, es müsse eine Veränderung in ihrem Leben geben. Der Tod ihrer Tochter hatte sie wieder daran erinnert, wer sie war und wohin sie gehörte. Sie konnte nicht mehr zurück. Nicht in die Stadt, nicht zu Thomas. Und ohne dass sie etwas sagen musste, verstand er es sofort. Dennoch – und genau das fürchtete sie – gab er sich nicht geschlagen. Er machte nicht kehrt und fuhr davon. Vielmehr kam er langsam auf sie zu.
    »Hallo, Thomas«, begrüßte sie ihn leise.
    »Hallo, Caroline.«

    »Du hast nie von diesem Haus erzählt.« Es lag kein Vorwurf in seiner Stimme, eher Verwunderung, während er mit der Hand über das Fell des Hundes strich, der neben ihm saß. Sein Blick huschte über die unzähligen Bücher und die schweren Balken der Wände, als könnten sie ihm helfen zu verstehen, was geschehen war.
    Caroline antwortete nicht sofort. »Ich bin fast dreißig Jahre nicht hier gewesen«, sagte sie schließlich. »Dieser Ort hatte keine Bedeutung für uns.«
    »Aber warum jetzt …«, hilflos sah er sie an und suchte nach Worten, »… und warum auf diese Weise? Ich meine, du hast deine Wohnung verlassen, ohne mein Wissen … Du warst von einem Tag auf den anderen fort, wie vom Erdboden verschluckt. Du …«
    »Es tut mir leid, Thomas«, unterbrach sie ihn. »Ich konnte nicht anders.« Ihr Tonfall war kälter als beabsichtigt.
    Thomas zuckte zusammen, und Caroline rief sich zur Räson. Sie wollte ihm nicht weh tun. Er war mehr als anderthalbtausend Kilometer gereist, um mit ihr zu sprechen. Sie atmete tief durch, zwang sich zu einem sanfteren Ton. »Es tut mir wirklich leid, Thomas. Aber ich musste fort. Ich weiß nicht, was sonst noch passiert wäre.«
    Schweigend starrte er in die Flammen des Kaminfeuers. »Ich habe dich überall gesucht. Ich wollte schon eine Vermisstenmeldung aufgeben.«
    »Eine Vermisstenmeldung?«, wiederholte sie tonlos. »Warum?«
    Nun wandte er sich ihr zu und sah ihr direkt in die Augen. »Verstehst du denn nicht? Ich war verrückt vor Sorge! Kurz nach der Beerdigung von Lianne verschwindest du spurlos, ich hatte Angst, dass du …« Er unterbrach sich selbst und presste die Lippen aufeinander, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte.
    Caroline zitterte plötzlich unkontrolliert. Sie hatte keine Macht über die hässlichen Bilder, die mit der Nennung von Liannes Namen und ihrem Tod vor ihrem inneren Auge aufstiegen. Unsicher stand sie auf, trat an den Kamin und griff nach dem Schürhaken. Noch immer zitternd schob sie die Glut zusammen und legte einige Birkenscheite nach, beobachtete, wie sich die Flammen gierig in die helle trockene Rinde fraßen. Thomas ahnte nichts von dem Alptraum, mit dem sie lebte, nichts von dem Grauen, das sie in Hamburg Tag und Nacht begleitet hatte. Liannes Tod hatte eine Tür aufgebrochen, die sie fast dreißig Jahre
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