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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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zumindest im Ansatz einen Sinn für Ehre zu haben, denn ich habe mich Gus’ Eltern anvertraut. Ich habe sie besucht und ihnen erzählt, dass es meine Entscheidung war, allein in Gruhuken zu bleiben, als er krank wurde. Ich erzählte ihnen, dass er meinetwegen noch einmal zurückkehrte. Dass er meinetwegen gestorben ist.
    Ich dachte, sie würden mich hassen. Doch sie waren dankbar . Algie hatte ihnen erzählt, dass ich ins Wasser gesprungen war, um ihren Sohn zu retten, und sie konnten erkennen, wie sehr es mich erschütterte, dass ich es nicht geschafft hatte. Für sie bin ich ein Paradebeispiel des ehrenhaften englischen Gentlemans. Sie waren wunderbar zu mir, und ich stehe für immer in ihrer Schuld. Sie halfen uns, die Dinge mit der Versicherung und der geliehenen Ausrüstung zu regeln, und Gus’ Vater sprach ein «ernstes Wort» mit den richtigen Leuten, das dafür sorgte, dass die Geschichte nicht in der Presse landete. Sie suchten einen Spezialisten für meine Erfrierungen und einen weiteren, der mir dabei half, nach der Amputation meines Fußes wieder zurechtzukommen. Algie erzählte ihnen von meinen Albträumen und meiner Abscheu vor der Dunkelheit, und sie suchten ein Sanatorium für mich – in Oxford, so weit weg von der See, wie man nur sein kann.
    Auch diese Stellung haben sie mir gesucht. Ich bin inzwischen seit neun Jahren auf Jamaika. Ich arbeite für die Forschungsabteilung der Botanischen Gärten in Castleton. Meine Pflichten sind botanischer und verwaltungstechnischer Natur. Die Physik kann ich nicht mehr ertragen. Sie entsetzt mich. Außerdem bringen Pflanzen mich Gus näher.
    Die Arbeit ist absolut berechenbar, und das brauche ich mehr als alles andere. Gemäß dem Wochenplan, den ich mir in meinem Heft erstellt habe, vollziehe ich jede einzelne Aufgabe zu einer festgelegten Stunde. Mein Heft enthält außerdem festgelegte Zeiten für Mahlzeiten, Spaziergänge, Lesestunden, Schlaf, Gartenarbeit und die Zusammenkunft mit anderen Menschen. Algie meint, ich sei inzwischen schon genauso schlimm wie ein Deutscher – und er muss es wissen, nach drei Jahren Kriegsgefangenschaft –, doch ich glaube, er versteht mich. Ich klammere mich an meine Routine, weil ich sie einst verloren habe. Sie gibt mir Sicherheit. Auch wenn ich weiß, dass Sicherheit nur eine Illusion ist.
    Jamaika gefällt mir. Die tropischen Nächte sind beinahe das ganze Jahr hindurch gleich lang, und es gibt keine nervenaufreibende Dämmerung. Ich mag die lebendigen Farben in meinem Garten: die purpurrote Ingwerpflanze und die gelbe Gewürzrinde, den giftigen, rosaroten Oleander. Ich mag diese unentwegte, geräuschvolle Lebendigkeit: die summenden Insekten, die quakenden Frösche, die zwitschernden Vögel.
    Mein Haus liegt in den Hügeln, inmitten von einem Dschungel aus Palmen und Baumfarnen, direkt unter einem riesigen Wollbaum. Die Einheimischen nennen ihn «Duppy-Baum». Duppy ist das jamaikanische Wort für Geist. Das stört mich nicht. Die hiesige Vorstellung von Geistern erscheint mir berührend naiv.
    Von der Veranda aus habe ich einen Blick auf grüne Berge. Kolibris trinken aus den Blütenkelchen der Pflanzen, die in dichten Vorhängen von der Dachtraufe hängen. Es gibt eine Kranzschlinge – meine Köchin sagt, die wachsigen weißen Blüten seien Totenblumen – und eine Rankwicke, die sie «Kehr-den-Blick» nennt, weil sie den Bösen Blick abwendet. Die Straße nach Castleton besteht aus einem wuchernden Tunnel aus Riesenbambussen, was sehr gut ist, weil es bedeutet, dass ich das Meer nicht sehen kann. Es ist nur wenige Kilometer entfernt, doch bis auf einmal im Jahr komme ich nie in seine Nähe.
    Das Tagebuch, das ich in Gruhuken geschrieben habe, besitze ich noch immer. Sie haben es bei mir gefunden, als sie mich aus dem Wasser fischten. Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze, kann ich es zuoberst auf der Bücherkiste sehen. Es ist verzogen, zerfranst und voll salziger Stockflecken, und ich stelle mir vor, dass meine Worte ineinandergelaufen sind. Ich habe es niemals wieder aufgeschlagen. Ich werde es auch nie mehr tun.
    Sie haben mir Gus’ Hemd ausgezogen und es verbrannt, ehe ich wieder bei Bewusstsein war, und so besitze ich nichts von ihm. Hugo hat mir angeboten, mir die Fotografie zu schicken, die in Tromsø von uns gemacht wurde und auf der wir in unserer nagelneuen Winterausrüstung zu sehen sind. Ich lehnte ab. Ich könnte den Anblick von uns nicht ertragen, so hoffnungsvoll und ahnungslos.
    Mir fällt auf,
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