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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath
Autoren: Malcolm Gladwell
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das nicht kleinzukriegen war. Oder wie André Trocmé es einmal ausdrückte: »Wie sollten die Nazis je mit solchen Leuten fertig werden?« 165
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    André Trocmé kam im Jahr 1901 zur Welt. Er war groß und kräftig und hatte eine lange Nase und scharfe blaue Augen. Er arbeitete unermüdlich und war überall in Le Chambon anzutreffen. Seine Tochter Nelly hatte das Gefühl, »aus allen Poren verströmte er Pflichtgefühl«. Er bezeichnete sich selbst als Pazifist, aber wenn er tatsächlich einer war, ließ er es sich nicht anmerken. Er und seine Frau Magda waren bekannt für ihre lautstarken Streitereien. Viele beschrieben den Pastor als un violent vaincu par Dieu – ein gewalttätiger Mann, der von Gott bezwungen worden war. »Weh dem, der in Milde beginnt«, schrieb er in sein Tagebuch. »Er wird in Lauheit und Feigheit enden und nie einen Fuß in den großen und befreienden Strom des Christentums setzen.«
    Sechs Monate nach dem Besuch von Minister Lamirand wurden Trocmé und Theis verhaftet und in ein Internierungslager verschleppt. Dort wurden ihnen »sämtliche Besitzgegenstände abgenommen und die Nasen vermessen, um festzustellen, ob sie Juden waren«, so Hallie. Nach gut einem Monat erhielten sie die Mitteilung, sie dürften gehen, aber nur, wenn sie erklärten, »alle Anweisungen von staatlichen Behörden zu befolgen, zur Sicherheit Frankreichs und zum Wohl der Nationalen Revolution von Marschall Philippe Pétain.« Trocmé und Theis weigerten sich. Der Lagerleiter ging ungläubig auf die beiden zu. Die meisten der Lagerinsassen sollten in den Gaskammern der Deutschen ums Leben kommen. Wenn sie bereit waren, ein Papier mit ein paar patriotischen Floskeln zu unterschreiben, durften diese beiden Männer nach Hause gehen.
    »Was soll das?«, schrie der Lagerleiter. »Dieser Eid hat nichts mit eurem Gewissen zu tun! Der Marschall will das Wohl Frankreichs!«
    »Aber in einem Punkt stimmen wir nicht mit dem Marschall überein«, erwiderte Trocmé. »Er liefert die Juden an die Deutschen aus. Wenn wir nach Hause kommen, werden wir nach wie vor dagegen sein, und wir werden die Anweisungen der Regierung weiter missachten. Wie sollten wir das hier unterschreiben können?«
    Der Lagerleiter gab schließlich auf und schickte sie nach Hause.
    Im weiteren Verlauf des Krieges nahm die Gestapo Le Chambon ins Visier, und Trocmé und Theis mussten fliehen. Theis schloss sich der Résistance an und verbrachte den Rest des Krieges damit, Juden über die Alpen in die Schweiz zu schmuggeln. »Natürlich war das nicht vernünftig«, erklärte er Haille. »Aber ich musste es einfach tun.«
    Trocmé zog mit einem falschen Ausweis von einem Ort zum anderen. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen wurde er bei einer Razzia im Bahnhof von Lyon verhaftet. Er wurde unruhig – nicht aus Furcht vor der Entdeckung, sondern weil er nicht wusste, was er mit seinen falschen Papieren tun sollte. Haille schreibt:
    » Auf seinem Ausweis stand der Name Béguet, und man würde ihn fragen, ob dies sein richtiger Name war. Dann hätte er lügen müssen, um seine wahre Identität zu verbergen. Aber er konnte nicht lügen. Wenn er log, um seine Haut zu retten, dann bedeutete dies, ›in einen dieser Kompromisse zu gleiten, die zu machen Gott mich nicht berufen hatte‹, schrieb er in seinen Aufzeichnungen über dieses Ereignis. Falsche Ausweise zu verwenden, um das Leben anderer und selbst sein eigenes zu retten, war eine Sache. Aber es war etwas ganz anderes, vor einem Menschen zu stehen und ihn aus bloßem Selbsterhaltungstrieb anzulügen. «
    Ist es aus moralischer Sicht wirklich ein Unterschied, einen Ausweis mit einem falschen Namen bei sich zu tragen oder einem Polizisten einen falschen Namen zu nennen? Vielleicht nicht. Trocmé war damals mit einem seiner kleinen Söhne unterwegs. Er war noch in der Rettung von Flüchtlingen aktiv. Er hätte viele gute Gründe gehabt, zu einer Notlüge zu greifen.
    Aber darum geht es nicht. Trocmé war ein unverträglicher Mensch, genau wie Emil Freireich, Wyatt Walker und Fred Shuttlesworth. Das Schöne an den Unverträglichen ist, dass sie nicht dieselben Berechnungen anstellen wie andere Menschen. Wyatt Walker und Frank Shuttlesworth hatten nichts zu verlieren. Wenn man ausgebombt und vom Ku Klux Klan verprügelt wurde, kann es ja eigentlich kaum nochschlimmer kommen, oder? Emil Freireich wurde verwarnt, er sollte mit seinen Experimenten aufhören, und wurde von Kollegen verspottet. Er hielt sterbende Kinder im Arm
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