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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath
Autoren: Malcolm Gladwell
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zu hängen habe. Trocmé und Theis schüttelten nur den Kopf. Am 1.   August   1941, dem ersten Jahrestag der Einsetzung des Vichy-Regimes, sollten im ganzen Land die Kirchenglocken geläutet werden. Trocmé sagte der Küsterin, einer Frau namens Amélie, sie solle sich nicht die Mühe machen. Zwei reiche Touristen kamen und beschwerten sich. »Die Glocke gehört nicht dem Marschall, sondern Gott«, sagte Amélie trocken. »Sie wird zu Ehren Gottes geläutet oder gar nicht.« 161
    Im Winter und Frühling des Jahres 1940/41 verschlechterte sich die Situation der Juden in Europa rapide. Irgendwann stand eine Frau vor Trocmés Tür. Sie zitterte vor Kälte und vor Angst. Sie sei Jüdin, sagte sie, und ihr Leben sei in Gefahr. Sie hatte gehört, Le Chambon sei ein gastfreundlicher Ort. »Also habe ich zu ihr gesagt: ›Kommen Sie rein‹«, erinnerte sich André Trocmés Frau Magda Jahre später. »Und damit hat alles angefangen.« 162
    Bald kamen immer mehr jüdische Flüchtlinge nach Le Chambon. Trocmé fuhr mit dem Zug nach Marseille, um sich mit einem Quäker namens Burns Chalmers zu treffen. Die Quäker hatten die humanitäre Betreuung der Internierungslager übernommen, die damals in Südfrankreich errichtet wurden. Diese Lager wurden von Ratten und Läusen heimgesucht, und die Menschen lebten unter entsetzlichen Bedingungen. In einem Lager starben zwischen 1940 und 1944 etwa 1100   Juden. Viele der Überlebenden wurden früher oder später nach Osteuropa verschleppt und in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordet. Den Quäkern gelang es, Menschen aus diesen Lagern zu befreien, vor allem Kinder. Aber sie wussten nicht, wohin sie sie schicken sollten. Trocmé schlug vor, sie nach Le Chambon zu bringen. Aus dem Rinnsal von Juden, die den Berg heraufkamen, wurde eine Flut.
    Im Sommer 1942 stattete der Vichy-Jugendminister Georges Lamirand Le Chambon einen Besuch ab. Nach dem Vorbild der deutschen Hitlerjugend wollte Pétain in ganz Frankreich Ausbildungslager für französische Jugendliche errichten.
    Lamirand kam in marineblauer Uniform und mit großem Hofstaat den Berg herauf. Auf der Tagesordnung stand ein Festessen, dann ein Marsch zum Stadion und eine Begegnung mit der Jugend des Ortes, und schließlich ein großer Empfang. Das Festessen verlief wenig erfreulich. Das Essen war dem Minister nicht vornehm genug. Trocmés Tochter verschüttete, natürlich unabsichtlich, Suppe auf Lamirands Uniform. Während des Umzugs war der Ort wie ausgestorben. Am Stadion war nichts vorbereitet worden: Die Kinder rannten umher, drängten sich um die Abordnung und starrten sie an. Während des Empfangs stand einer der Bauern auf und las einen Satz aus dem 13.   Kapitel des Römerbriefs vor: »Bleibt niemand etwas schuldig; nur die Liebe schuldet ihr einander immer. Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt.«
    Dann trat eine Abordnung von Schülern auf Lamirand zu und präsentierte ihm vor den versammelten Bürgern des Ortes einen Brief. Das Schreiben hatten sie mit Trocmés Hilfe aufgesetzt. Im Sommer hattedie Polizei des Vichy-Regimes auf Anordnung der deutschen Besatzer in Paris 28   000   Juden verhaftet. Die Verhafteten waren in der Radrennhalle Vélodrome d’Hiver im Süden der Stadt unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht worden, ehe sie in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurden. In ihrem Brief machten die Schüler klar, dass sie damit nichts zu tun haben wollten. Sie schrieben:
    » Herr Minister, wir haben von den erschreckenden Szenen gehört, die sich vor drei Wochen in Paris abgespielt haben, wo die französische Polizei auf Anweisung der Besatzungsmacht alle jüdischen Familien von Paris in ihren Häusern verhaftet hat und im Vél d’Hiv festhält. Väter wurden ihren Familien entrissen und nach Deutschland geschickt. Kinder wurden den Müttern entrissen, die dasselbe Schicksal erlitten wie ihre Ehemänner ... Wir sind in Sorge, dass die Deportation der Juden bald auch im Süden beginnt.
    Wir fühlen uns verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass sich Juden unter uns befinden. Wir unterscheiden jedoch nicht zwischen Juden und Nichtjuden. Das widerspricht der Lehre der Bibel.
    Wenn unsere Kameraden, die keine Schuld haben, in einer anderen Religion geboren zu sein, den Befehl zu Deportation oder Zwangsuntersuchung erhielten, würden sie diesem Befehl nicht Folge leisten, und wir würden sie verstecken, so gut wir können. «
    Wir haben Juden unter uns. Aber ihr kriegt sie
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