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Das Zimmermaedchen

Das Zimmermaedchen

Titel: Das Zimmermaedchen
Autoren: Markus Orths
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besoffen. Um elf schläft er immer noch. Als er um zwölf unter der Dusche steht, schleicht Lynn hinaus.
    Ich bin müde, denkt sie, ich bin so müde, dass ich nichts mehr tun kann, ich bin so müde, dass ich nur noch ins Bett fallen kann, ins eigene. Aber stattdessen geschieht ganz was anderes: Als sie zu Hause ankommt, greift ihre Hand nach dem Hörer, und ihr Auge liest die Zahlen ab, die auf dem abgerissenen Eden-Zettel stehen, und ihr Ohr hört das Fiepen des Freizeichens, und ihr Kopf sagt ihr, das ist eine Handynummer, und ihre Zunge spricht mit Chiara, die sich nach dem zweiten Läuten schon meldet, und diese Stimme macht Lynn nervös, sie weiß nicht so recht, was sie sagen soll, aber sie fängt sich, stottert nur kurz, Chiara nimmt ihr die Befangenheit, für sie scheint es nicht befremdlich zu sein, dass eine Frau sich meldet, Lynn hat sich nichts zurechtgelegt vorher, keine Sätze, keine Fragen, spricht einfach drauflos, will plötzlich unbedingt das Gesicht sehen, dem diese Stimme gehört, und fragt Chiara nach der Möglichkeit von Hausbesuchen, und für Chiara ist alles kein Problem, warum auch, denkt Lynn, Chiara hat so einen Anruf wohl schon tausendmal bekommen, sie kennt die Abfolge der Fragen und Antworten, das schnurrt am Schluss und läuft fast wie von selbst.
    »Kannst du am Samstag?«, fragt Lynn.
    »Wie viel Uhr?«
    »Um fünf?«
    »Wo wohnst du?«
    »Kohlhaldenstraße 7.«
    »Und wo soll ich klingeln?«
    »Bei Zapatek. Lynn Zapatek.«
    »Woher hast du meine Nummer?«
    »Spielt das ne Rolle?«
    »Von nem Kunden?«
    »Ja.«
    »Von wem?«
    »Musst du das wissen?«
    »Ja.«
    »Ich sag’s dir am Samstag.«
    »Spezielle Wünsche?«
    »Nein.«
    »Also dann.«
    »Also dann.«
    »Bis um fünf.«
    »Um fünf.«
    »Ciao.«
    »Ciao.«
    Lynn schwitzt. Da ist eine Stimmung in ihr, die sie mit Lebendigkeit verwechseln könnte. Lynns Blick fällt auf den Telefonhörer, den sie noch in der Hand hält. Telefonmuschel, sagt sie in den Raum. Muschel, sagt Lynn, wieso Muschel?
    Als Kind hat sie einmal am Strand eine Muschel gefunden, hat die Muschel der Mutter gebracht, die im Badeanzug dort lag, käseweiß unterm Sonnenschirm, mit ihrem Buch.
    Eine Muschel, hat Lynn gesagt, ich hab eine Muschel gefunden.
    Die Mutter hat gesagt, du musst sie ans Ohr halten.
    Und Lynn hat die Muschel ans Ohr gehalten.
    Was hörst du?, hat die Mutter gefragt.
    Ein Rauschen, hat Lynn gesagt.
    Das ist Meeresrauschen, hat die Mutter gesagt, die Wellen, die in der Muschel gefangen sind.
    Das Meer?, hat Lynn gefragt.
    Das Meer, hat die Mutter gesagt und weitergelesen.
    Wie, hat Lynn gedacht, wie kann eine Muschel das Meer fangen, wie kann so etwas Kleines und Zerbrechliches wie eine Muschel so etwas Großes und Unzerstörbares fangen wie das Meer, die Wellen des Meers, das Rauschen des Meers? Und sie hat damals die Muschel mit aufs Zimmer genommen und auf den Nachttisch gelegt, und weil sie nicht schlafen konnte, hat sie ihr Ohr immer wieder an die Muschel gehalten, hat in die Dunkelheit gestarrt und dem Klang der Wellen gelauscht. Sie hat das Wasserglas genommen und leer getrunken, und nur weil sie das Wasserglas genommen und leer getrunken hat, hat sie das leere Wasserglas in der Hand halten können, und nur weil sie das leere Wasserglas in der Hand gehalten hat, hat sie es plötzlich übers Ohr gestülpt, und nur weil sie das Wasserglas übers Ohr gestülpt hat, hat sie das gleiche Rauschen wie aus der Muschel gehört, die gleichen Wellen, den gleichen Wind. Und Lynn hat das Wasserglas zurückgestellt und die Muschel in den Papierkorb geworfen, weil sie plötzlich geahnt hat, dass alles im Leben Betrug ist.

7
    D as Putzen in den nächsten Tagen verläuft zäh. Lynn trödelt. Müsste sich beeilen. Statt schneller zu putzen, putzt sie langsamer. Zahnputzbecher spült sie zweimal aus. Einmal fällt ihr einer auf den Boden, er zerklirrt, sie muss die Splitter aufkehren und einen neuen holen. Lynn sieht überall unsichtbare Flecken auf den Badezimmerböden. Sie kann gar nicht genug wischen. Man müsste, denkt Lynn, die Fliesen aus dem Boden brechen und unter den Fliesen putzen, man müsste alles rausreißen und neu machen, dann wäre es sauber, aber vielleicht auch nicht, vielleicht wäre es dann erst recht dreckig, vom Staub, den die Arbeiter machen. Lynn fährt mit den Putzhandschuhen tief unter die Ränder der Toilettenschüssel, dort sind Stellen, die sie nicht sehen kann, immer schon haben sie Stellen, die sie nicht sehen kann,
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