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Das Zimmermaedchen

Das Zimmermaedchen

Titel: Das Zimmermaedchen
Autoren: Markus Orths
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anstrengen.«
    »Das bisschen.«
    »Wie lang warst du draußen?«
    »Nur zwei Stunden.«
    »Viel zu lang.«
    »Lass mich doch.«
    »Und sonst?«
    »Ich hab gehäkelt.«
    »Was denn?«
    »Windmühlenmuster. Ein Deckchen mit Windmühlenmuster. Willst du es sehen?«
    Lynn nickt. Die Mutter steht auf, verlässt das Wohnzimmer und kommt mit dem Deckchen zurück.
    »Es ist noch nicht fertig.«
    Lynn rückt ein Stück auf ihrem Sessel vor und nimmt sich ein weiteres Plätzchen. Sie hält diesmal die Hand unter den Mund, um die Krümel aufzufangen.
    »Hier ist die Windmühle.«
    »Mhm.«
    »Vier Flügel. Die Tür. Zwei Fenster. Da.«
    »Für wen machst du das?«
    »Für Frau Klöppels.«
    »Zum Geburtstag?«
    »Die wird neunzig dieses Jahr.«
    »Hat sie sich das Deckchen gewünscht?«
    »Etwas Gehäkeltes.«
    »Die Plätzchen sind lecker.«
    »Haben dir schon als Kind geschmeckt.«
    »Ich weiß.«
    »Du hast immer den Teig genascht.«
    »Mhm.«
    »So viel, bis dir schlecht war.«
    »Mhm.«
    Lynn isst das nächste Plätzchen. Sie hört jetzt nicht mehr auf zu essen. Sieht den Teller vor sich und zählt im Geist die Plätzchen, die noch drinnen liegen. Ich will sie auffressen, denkt Lynn, ich will sie vernichten, ich will sie in mich hineinschlingen, bis keins mehr da ist, alle weg, und sie macht jetzt keine Pausen mehr zwischen den Plätzchen, isst ein Plätzchen nach dem anderen, immer mit Schlucken aus dem Wasserglas.
    »Und im Hotel?«, fragt Mutter.
    »Mhm.«
    »Alles in Ordnung?«
    »Mhm.«
    »Ist dein Chef zufrieden?«
    »Mutter.«
    »Ja?«
    »Ich bin ein anderer …«
    »Was?«
    » … ein anderer Mensch, als du denkst.«
    Mutter sieht an ihr vorbei und reibt sich mit den Händen über die Oberschenkel. Sie ruckt vor, als wolle sie aufstehen, bleibt aber sitzen. Sie nimmt den leeren Teller vom Tisch.
    »Magst du noch Plätzchen, Linda?«
    Lynn nickt. Jetzt erst steht die Mutter auf und kommt nach einer Weile mit frischen Plätzchen zurück.
    »Wann hat Frau Klöppels Geburtstag?«, fragt Lynn.
    »In drei Tagen.«
    »Schaffst du bis dahin das Deckchen?«
    »Ja, sicher.«
    »Wohnt sie immer noch in der Kurzeneckstraße?«
    »Nein, sie ist ins Altenheim gegangen.«
    »Wann?«
    »Vor ein paar Monaten.«
    »Wusste ich gar nicht.«
    »Sie konnte nicht mehr so, wie sie wollte.«
    »Sie konnte nicht mehr so, wie sie wollte«, wiederholt Lynn leise.
    »Man musste ihr schon beim Anziehen helfen.«
    »Wie ein kleines Kind.«
    »Ich sag immer, Frau Klöppels, sag ich, wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …«
    Lynn gähnt.
    »Es ist doch erst zehn«, sagt Mutter.
    »Ich hab Kopfschmerzen.«
    »Immer, wenn du hier bist, hast du Kopfschmerzen.«
    »So oft bin ich nicht hier.«
    »Vielleicht ist es ja irgendwas im Haus. Staub, Schimmel, der Keller ist feucht? Als Kind hattest du das doch nicht.«
    »Keine Ahnung.«
    Lynn bleibt sitzen, gelähmt irgendwie.
    »Morgen«, sagt Mutter, »muss ich vorm Haus und zwischen der Garage und der braunen Tür die Beete machen.«
    Lynn nickt.
    »Die müssen winterfest gemacht werden, da kommen die alten Blumen raus und Erika rein und zwischen die Erika Stiefmütterchen. Die Stiefmütterchen müssen im Mai wieder raus, aber jetzt kommen die rein, zwischen die Erika.«
    Lynn schweigt eine Weile. Sie sieht Mutter nicht an. Sie trinkt nichts mehr, isst nichts mehr, denkt nichts mehr.
    »Die Erika kommen schon im März wieder raus.«
    Lynn beobachtet das Schwingen der Pendeluhr.
    »Die Rosenstöcke muss ich abdecken. Da kommt Tannengrün auf die Erde. Damit die Wurzeln nicht erfrieren.«
    »Ich glaub, ich geh jetzt langsam mal hoch«, sagt Lynn und steht auf.
    »Ich werd dir das Bett beziehen«, sagt Mutter.
    »Gib mir einfach das Bettzeug.«
    »Kommt nicht in Frage, ich werd dir das Bett beziehen.«
    Gemeinsam gehen sie die Treppe hoch. Tausende Male mit Rucksack und Tornister hoch- und runtergelaufen. Tausende Male den ewig gleichen Weg zur Schule. Tausende Male der ewig gleiche Rückweg. Woher wussten ihre Beine, wo sie hinmüssen? Warum haben sie keinen anderen Weg gewählt? Woher wussten sie Bescheid über das, was sich Zuhause nennt? Warum sind die Beine nicht einfach mal links abgebogen? Irgendwohin. In irgendein anderes Haus. Zu irgendwelchen Menschen. Die Mutter bezieht das Bett. Lynn steht daneben und sieht zu. Ihr Zimmer ist immer noch ihr Zimmer. Es wird für nichts anderes benutzt. Es ist nur da, um zu sagen, ich war einmal dein Zimmer.
    »Ich kann jetzt noch nicht schlafen«, sagt
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