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Das Wunder von Bajkonur

Das Wunder von Bajkonur

Titel: Das Wunder von Bajkonur
Autoren: Heinz G. Konsalik
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daß das Leben in den Steppen von Karaganda gleichförmig und ohne Höhepunkte ist – sieht man davon ab, daß es hier einige berüchtigte Straflager gibt, die sogar von Moskau offiziell zugegeben werden. Aber von denen merkte man in Bajkonur wenig, nur ab und zu gab es einige Wandzeitungen, die von Flüchtlingen berichteten, und man wurde aufgerufen, als guter Sowjetbürger einen solchen Verbrecher sofort auszuliefern, wenn man ihm begegnete. Aber das war noch nie geschehen … nach Bajkonur flüchtete niemand!
    So war auch der 17. April ein Tag wie jeder andere. Nur das Wetter spielte verrückt. Es war für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm und schwül, der Himmel sah aus wie hellblaues Blei, an das man schmutzige Wattebäusche geklebt hatte. Die geballten Wolken bewegten sich kaum, dennoch donnerte es vom Salzsee her ununterbrochen, ohne daß ein einziger Tropfen Regen fiel. So ein Wetter hatte man hier noch nicht erlebt. Entweder schneite und fror es, oder es regnete wie aus Eimern, oder die Sonne brannte wie ein Brennglas … aber so eine diffuse Stimmung, so ein warmes Grau überall, war neu. Selbst die älteste Genossin von Bajkonur, die 97 Jahre alte Raissa Nikiforowna, schwor glaubwürdig, das sei ein Wetter, wie es in der Bibel beim Bericht über den Weltuntergang beschrieben wurde. Der Lehrer David Iwanowitsch Achlomow, ein sehr gebildeter Mann, der sich nebenbei auch wissenschaftlich mit Mineralogie beschäftigte und einen Haufen der wundersamsten Steine gesammelt und im ›Haus der Gemeinschaft‹ ausgestellt hatte, sagte etwas sehr Komisches: »Die Luft ist voller Elektrizität!« Das verstand zwar keiner, denn Elektrizität kommt ja aus der Steckdose, und als man den Elektriker Bassow auf die Behauptung des Lehrers ansprach, tippte er sich an die Stirn, lächelte mokant und sagte: »Aus der Luft kommt sie niemals. Meine Lieben, wenn ich keine Leitungen lege, gibt's keinen Strom! Ist doch klar! Der Genosse Lehrer ist ein kluger Mensch, aber er soll bei seinen Büchern und Steinen bleiben und nicht über Dinge reden, von denen andere von Berufs wegen mehr verstehen!«
    Es war gegen elf Uhr vormittags – nach dem später amtlich aufgenommenen Protokoll genau 10 Uhr und neununddreißig Minuten –, als die ehrbaren Hausfrauen Emilia Petrowna Saripowa, Alla Iwanowna Lukaschowa und Galina Victorowna Bassowa im Laden von Weronika standen, ein Schwätzchen hielten, über nicht anwesende Nachbarinnen herzogen und sich über ihre müden Männer beklagten. Kurz und gut: Erfahrungen austauschten, die langjährige Ehefrauen zuhauf mit sich herumschleppten. Von ferne donnerte es wie seit zwei Tagen, es war schwül, bei jeder Bewegung brach der Schweiß aus den Poren. Es mußte bald regnen, was wie eine Befreiung sein würde, denn die allgemeine Nervosität war groß, das Wetter reizte die Nerven. Bei der kleinsten Meinungsverschiedenheit schrie man sich an, als wolle man sich gleich gegenseitig umbringen. Lukaschow, der Anstreicher, sonst ein Vollmondsäufer, soff außerplanmäßig bis zum Umfallen, und der Dachdecker Saripow, sonst ein stiller, braver Mensch, den die ständige Betrachtung der Umwelt von oben geradezu philosophisch gemacht hatte, stellte plötzlich seiner geschminkten Frau Emilia nach, als sei er ein brunftiger Hirsch. Emilia Petrowna fühlte sich um zwanzig Jahre zurückversetzt …
    Das alles kam im Lebensmittelladen von Weronika Alexandrowna Jakowlewa zur Sprache. Der Schwüle wegen waren die Ladentür und die Tür zum Hintereingang geöffnet und mit einem Holzkeil festgestellt. So gab es wenigstens einen schwachen Durchzug, der auf der nassen Haut spürbar angenehm war. Kunstmaler Jakowlew saß hinter dem Haus an der Staffelei und malte eine Kuh, die gerade eine dicke Runkelrübe im Maul zerkaute.
    »Man soll es nicht für möglich halten!« sagte Alla Iwanowna gerade. »Da wird behauptet, Schneider Tolokaj habe ein Verhältnis mit der Verkäuferin im Magazin, Larissa Stepanowna. So etwas! Hat einen noch dickeren Hintern als seine eigene Frau. Wer kann das begreifen?«
    »Der Hintern ist zweiundzwanzig Jahre jünger!« lachte Emilia Petrowna. »Männer sind von Natur aus blöd, das wißt ihr doch …«
    In diesem Augenblick erstarrten sie alle, ihre Münder blieben stehen, die Augen versteinerten zu einem Glotzen, nur unter der Haut zuckten die Muskeln und Nerven, als jage ein Strom durch ihren Körper:
    Durch die offene Ladentür schwebte lautlos, in einem Meter Höhe vom Boden aus, ein
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