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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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war eine Abweichung von der Norm, und sie gefiel ihm gar nicht. Bei genauerem Hinsehen glaubte er gar, in Sonntags Gesicht Spuren einer gewissen Beschwingtheit zu erkennen. Seine Augen, die im Verlauf eines langen und erfolglosen Berufslebens stumpf geworden waren, schienen regelrecht zu glänzen.
    Viktor fragte sich, woher dieser plötzliche Aufschwung wohl stammen mochte, und nahm sich vor, den Mann darauf anzusprechen, sollte sich dessen Verhalten bis zum nächsten Tag nicht geändert haben. Solchen Verhaltensänderungen musste nachgegangen werden, auch wenn er derzeit Dringlicheres zu tun hatte.
    Sonntag stand hinter dem gewaltigen Holztresen des Cafés und zeigte einem jungen Mann, den Viktor noch nie gesehen hatte, wie man die Weingläser richtig polierte. Als er merkte, dass Viktor ihn beobachtete, gab er seinem Schüler ein Zeichen und durchquerte mit ihm im Schlepptau das Lokal, bis sie neben Viktors Tisch standen.
    Viktor sah von der Zeitung auf. »Was gibt es?«, fragte er mit einer gewissen Ungnade in der Stimme.
    Â»Herr Professor, entschuldigen Sie die Störung«, sagte Sonntag. »Ich möchte Ihnen meinen neuen Mitarbeiter vorstellen.«
    Er trat zur Seite und schob den jungen Mann nach vorn. Jener verneigte sich tief, die Hände hinter dem Rücken, sprach aber kein Wort. Seine Gesichtszüge waren ernst, aber nicht unsympathisch. Allerdings trug er einen dieser heutzutage modischen Sechstagebärte, die für Viktor eher ein Zeichen von Ungepflegtheit darstellten, und seine Haare waren etwas zu lang und fielen ihm in die Stirn.
    Â»Enrique da Soza wird mich, falls ich einmal anderweitig nicht abkömmlich sein sollte, gewissenhaft vertreten, Herr Professor.«
    Viktor runzelte die Stirn. »Anderweitig nicht abkömmlich? Was soll das heißen?«
    Sonntag trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Nichts Bestimmtes, Herr Professor. Es gibt keinen Anlass zur Sorge. Es ist nur für den Fall des Falles …«
    Â»Aha. Der Fall des Falles. Nun gut. Ich hätte zwar eine spezifischere Antwort bevorzugt, aber es ist offensichtlich, dass Sie nicht mehr verraten wollen. Ist dieser Mann Spanier?«
    Sonntag brauchte einen Moment, um zu antworten. »Nein, Herr Professor, er kommt aus unserer Stadt.«
    Â»Warum trägt er dann einen spanischen Namen?«
    Â»Wenn der Herr Professor erlauben.« Enrique trat einen Schritt vor. Er sprach die Worte sorgfältig und langsam aus, so wie ein Mensch, der sich die Landessprache als Fremdsprache angeeignet hatte. »Meine Mutter wurde in Spanien geboren, mein Vater stammt von hier. Enrique war schon der Vorname meines Großvaters.«
    Â»Tot?«
    Â»Wer, Herr Professor?«
    Â»Der Großvater.«
    Â»Nein, keineswegs, er ist zweiundachtzig Jahre und erfreut sich bester Gesundheit.«
    Â»Warum sagen Sie dann war ?«
    Â»Ich verstehe nicht, Herr Professor …«
    Â»Sie sagten: war schon der Vorname meines Großvaters. Eine irreführende Ausdrucksweise. Eine korrekte Wortwahl ist die Grundlage jeglicher Verständigung.«
    Â»Bitte verzeihen Sie …«
    Â»Schon gut, schon gut.« Viktor wurde der Wortwechsel lästig. Er faltete die Zeitung zusammen und reichte sie Sonntag. Dann beugte er sich vor und zog ein ledergebundenes Notizbuch aus der Aktenmappe, die er auf dem Stuhl neben sich abgestellt hatte.
    Â»Wollen Sie mir noch ein paar weitere Trivialitäten anvertrauen?«, fragte er.
    Â»Nein, Herr Professor«, versicherte ihm Sonntag. »Entschuldigen Sie, Herr Professor.«
    Er fasste den jungen Mann am Arm und zog ihn davon. Viktor beachtete die beiden schon nicht mehr. Er hatte sich bereits über das aufgeschlagene Notizbuch gebeugt.
    Weder er noch Christian bemerkten, dass Enrique das lederne Buch einen Augenblick länger betrachtete, als es angemessen gewesen wäre.
    2.
    Nach dem Frühstück, das nie länger dauerte als eine halbe Stunde, erhob sich Viktor, legte einen Geldschein auf den Tisch und verließ das Café in Richtung Parkhaus. In der Stadt war es in den letzten Jahren immer enger geworden. Die Erweiterung des Regierungsviertels hatte dazu geführt, dass sich noch mehr Menschen als zuvor in den Quartieren um das Zentrum drängten. Das hatte auch gravierende Auswirkungen auf die Parkplatzsituation. Viktor war froh, dass er überhaupt einen Platz in der Nähe seiner Wohnung hatte anmieten können.
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