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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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verließ. Es lag nicht daran, dass ihm die Mittel fehlten. Es war sein tief verwurzelter Unwille zur Veränderung. So offen er als Wissenschaftler gegenüber neuen Dingen war, so konservativ war er in seiner Lebensführung.
    Langsam stieg er die Treppe zum Erdgeschoss hinab. Die hölzernen Stufen knarzten unter seinen Schritten, und Viktor stellte mit einer leichten Verärgerung fest, dass die Putzfrau wieder einmal nicht gekommen war. Überall lag noch der Schmutz vom Wochenende, als es stark geregnet hatte und die Bewohner den Staub der Straßen mit ins Haus getragen hatten. Nach einem Blick in den Briefkasten, der wie meistens leer war (in den letzten Jahren korrespondierte er kaum noch), zog Viktor die Haustüre auf und trat heraus.
    Der Besitzer des winzigen arabischen Supermarkts nebenan war gerade dabei, die Auslage vor seinem Geschäft mit Gemüse und Obst zu bestücken. Er grüßte Viktor fröhlich. Dessen Antwort bestand aus einem leichten Kopfnicken. Obwohl er seine Lebensmittel aus Gewohnheit in einem Hypermarkt zwei Blocks weiter erwarb, hatte er ab und an eine Kleinigkeit hier unten gekauft und musste zugeben, dass die Qualität passabel war.
    Zu seiner Rechten erhob sich die mächtige Fassade des Nordbahnhofs. Wie dunkle Rinnsale eilten Menschen aus allen Richtungen auf die überdimensionierten Pforten dieses Tempels der Mobilität zu und vereinigten sich zu einem gewaltigen Strom, der fortwährend verschluckt wurde. Viktor mied die Bahn, wenn er nur konnte. Selbst in den Zeiten außerhalb des Berufsverkehrs ging es dort hoffnungslos hektisch zu.
    Zu beiden Seiten der Straße rollten Stoff- und Bekleidungshändler ihre Fensterläden hoch und schoben Kleiderhänger in ihre ohnehin schon aus allen Nähten platzenden Geschäfte. Massenartikel, billig in Asien produziert für alle, die sich nichts anderes leisten konnten. Und das waren inzwischen, wie er wusste, viele, nicht nur die Einwanderer. Er selbst konnte sich zum Glück in besseren Etablissements einkleiden, obgleich er es selten nötig hatte. Seine Anzüge waren teuer und er pflegte sie, sodass sie meist ein ganzes Jahrzehnt hielten. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal ein Bekleidungsgeschäft betreten hatte.
    Viktor spazierte an der Kunsthochschule vorbei und wandte sich nach rechts. An der Ecke befand sich ein Bistro, das er zielgerichtet ansteuerte. Die meisten Tische auf dem Bürgersteig waren bereits besetzt, fast alle von Stammgästen, die er vom Sehen kannte, aber dennoch nicht grüßte. Es beruhigte ihn, täglich die gleichen Menschen um sich zu haben. Mit ihnen unterhalten musste er sich deswegen noch lange nicht.
    Â»Guten Morgen, Professor Vau.« Der Kellner, der die Türe aufhielt, begrüßte ihn mit einer knappen Verbeugung und folgte ihm zu einem kleinen Tisch am Fenster. Er half Viktor aus dem Mantel, nahm auch den Stock und verschwand, um wenige Sekunden später mit dem aktuellen Morgenruf aufzutauchen, natürlich ungelesen. Viktor nahm die Zeitung mit einem Kopfnicken entgegen und vertiefte sich in den Leitartikel. Kurz darauf brachte der Kellner eine große Tasse Milchkaffee und ein Croissant, die er umständlich auf dem Tisch platzierte, um Viktor nicht zu stören.
    Viktor kam seit über zehn Jahren jeden Morgen hierher, um zu frühstücken. Keinen Tag hatte er in der ganzen Zeit ausgelassen. Und seit seinem ersten Besuch hatte ihn derselbe Kellner bedient. Er besaß diese Mischung aus Unterwürfigkeit und stiller Verzweiflung, die viele Menschen kennzeichnete.
    Viktor wusste, dass der Kellner Christian Sonntag hieß. Über die Jahre hin hatte er sich durch eine geschickte Mischung aus Belohnungen und Anforderungen in ihm einen willfährigen Diener geschaffen, der, dessen war sich Viktor sicher, jederzeit bereit sein würde, auch die ungewöhnlichsten Forderungen zu erfüllen, sofern er sie nur äußerte. Seine Belohnung dafür war ein wöchentliches Trinkgeld, das sich im Laufe der Jahre langsam gesteigert hatte, sowie zu Feiertagen noch ein zusätzlicher Bonus.
    Viktor riss gedankenverloren ein Stück des Croissants ab und tunkte es in den Milchkaffee, bevor er es in den Mund schob. Dabei beobachtete er Sonntag aus dem Augenwinkel. Der Mann ging seiner Tätigkeit wie gewohnt nach, und doch kam es Viktor vor, als sei sein Schritt heute leichter als sonst. Er runzelte die Stirn. Das
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