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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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verschwunden, als er sich seinen Weg zwischen den stehenden Autos hindurchbahnte.
    Viktor wusste, was das zu bedeuten hatte. Wenn selbst Radfahrer und Passanten nicht weiterkamen, konnte das nur am Fund einer neuen Bombe liegen. Oder gar an einer Explosion. Und das verhieß wiederum eine lange Wartezeit.
    Seit einem Monat verging kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo in der Stadt ein Sprengkörper explodierte. Menschen waren bislang noch nicht zu Schaden gekommen, aber das war, wie die Sicherheitsdienste annahmen, nur eine Frage der Zeit. Urheber der Anschläge war eine Terroristengruppe, die sich »Aufstand der anarchistischen Kolonne«, ADAK , nannte. Die Regierung vermutete, dass es sich um eine vom Ausland gesteuerte Kampagne handelte. Wie sollte eine bislang unbekannte Anarchistengruppe sonst in den Besitz solcher Mengen Sprengstoff gelangen? Trotz einer intensiven Großfahndung war es bis heute nicht gelungen, auch nur einen der Täter aufzuspüren, geschweige denn weitere Anschläge zu verhindern.
    Der Zeitpunkt der Attentatsserie war geschickt gewählt. Durch die bevorstehende Weltausstellung ruhten die Augen der Öffentlichkeit auf der Stadt, und jede neue Bombe brachte der ADAK eine weltweite Publizität. Natürlich würde es ihnen nicht gelingen, die Ausstellung zu verhindern oder den Staat mit ihren Aktionen ernsthaft in Gefahr zu bringen. Doch die Aufmerksamkeit war ihnen gewiss.
    Nachdem er die Klinik über seine Verspätung informiert hatte, holte Viktor das ledergebundene Notizbuch aus seiner Tasche und vertiefte sich darin.
    3.
    Astarte Apostolidis blätterte nervös in einer der Zeitschriften, die auf dem kleinen Tisch im Besucherraum aufgefächert waren. Es handelte sich um populärwissenschaftliche Magazine, die in reißerischer Aufmachung über lange bekannte Fakten berichteten. Sie klappte das Heft zu und warf einen Blick auf die Uhr an der hellblau tapezierten Wand. Jetzt saß sie bereits über eine halbe Stunde hier und wartete darauf, dass Viktor Vau endlich Zeit für sie fand.
    Sie hatte sich auf diesen Termin sorgfältig vorbereitet und ein neues, terracottafarbenes Kleid gekauft. Es war schlicht gehalten, aber der Schnitt betonte ihre Körperformen. Darüber trug sie eine locker gewebte graue Strickjacke. Astarte hoffte, damit die richtige Mischung zwischen dezentem Understatement und weiblicher Lässigkeit gefunden zu haben.
    Sie wusste, wie viel von dem Ausgang dieses Vorstellungsgesprächs abhing. Entsprechend intensiv hatte sie sich darauf vorbereitet. Sie war von Natur aus eine gewissenhafte Person, was ihr in einer solchen Situation zugutekam. Schließlich war Viktor Vau außerhalb eines kleinen Kreises von Wissenschaftlern kaum jemandem ein Begriff. Vergleichbar dürftig fielen die Informationen aus, die über ihn in den Medien und im Netz zu finden waren. Dank ihrer Zähigkeit war es Astarte allerdings gelungen, im Laufe der Zeit doch so viel zusammenzutragen, um sich ein einigermaßen klares Bild von Vau zu machen.
    Wie ihre Nachforschungen ergeben hatten, war der Professor bekannt dafür, bevorzugt allein zu arbeiten. Schon die Tatsache, dass er nach einer Assistentin suchte, war also außergewöhnlich. Zudem galt er in der akademischen Welt als Sonderling und Urheber besonders abstruser Theorien, was Astarte zu der Hoffnung veranlasste, dass viele, die auf dem Papier besser qualifiziert waren als sie, von einer Bewerbung absahen.
    Sie war sich bewusst, dass ihre Chancen auf die Stelle äußerst gering waren. Wenn es stimmte, was man über Viktor Vau erzählte, dann war er ein pedantischer Mensch, für den alles seinen ordnungsgemäßen Gang gehen musste. Sie konnte sich also nur auf ihren Charme und auf die Fachkenntnisse verlassen, die sie sich speziell für diesen Termin angeeignet hatte.
    Astarte seufzte und wollte gerade nach einer weiteren Zeitschrift greifen, als sich die Tür öffnete. Ein hochgewachsener Mann von Ende fünfzig trat in den Raum. Er sah mit seiner korrekten Bekleidung und seiner an keinerlei Trend orientierten Frisur altmodisch, aber durchaus sympathisch aus. Vielleicht lag es daran, dass die etwas zu großen, leicht abstehenden Ohren und der lang gezogene Mund in ihrer Unvollkommenheit ein Gegengewicht zur kühlen Perfektion seiner Kleidung bildeten.
    Â»Frau Apostolidis?« Er streckte ihr die Hand entgegen.
    Astarte sprang auf, strich ihr Kleid
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