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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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Viele seiner Nachbarn waren nicht in dieser glücklichen Lage. Ihre Wagen standen in den gewaltigen Parkgaragen an den Endhaltestellen der Vorortzüge, und sie mussten oftmals stundenlange Wege zurücklegen, um zu ihren Fahrzeugen zu gelangen.
    Dafür war der Preis, den Viktor zahlte, auch exorbitant hoch. Die Miete für die Parkbucht verschlang nahezu genauso viel wie die Miete für seine Wohnung. Aber Viktor hatte sich entschieden, dieses Opfer zu bringen. Die Vorstellung, sich jeden Morgen in den öffentlichen Nahverkehr zu stürzen, war für ihn unerträglich.
    Er fuhr mit dem Fahrstuhl auf das zwanzigste Parkdeck, wo ihn sein Jaguar erwartete. Auch wenn Viktor nichts auf Statussymbole gab, hatte er sich doch für diese etwas extravagante Marke entschieden. Der Grund dafür war einfach. Als junger Mensch hatte er nach dem Tod seines Vaters dessen Jaguar übernommen. Warum also sollte er zu einer anderen Marke wechseln? Er war mit diesem Fahrzeug und seiner Bedienung aufs Beste vertraut.
    Viktor war nun einmal kein Mensch, der sich unnötig dem Unbekannten aussetzte. Das bedeutete nicht, dass er unfähig war, mit Neuem zurechtzukommen. Im Gegenteil, seine gesamte Forschungsarbeit bestand ja darin, etwas zu entwickeln, was es bislang noch nicht gab. Aber gerade das war eben auch nur möglich, weil der Rest seines Lebens in geordneten Bahnen verlief.
    Er verließ das Parkhaus und schlug den Weg zur Nordtangente ein. Aus dem CD -Player erklang die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Viktor liebte dieses Werk, dessen mathematische Präzision und systematische Permutation den Wissenschaftler in ihm ansprachen. Ihm gingen die Worte Albert Schweitzers durch den Kopf: »Interessant kann man das Thema eigentlich nicht nennen; es ist nicht einer genialen Intuition entsprungen, sondern mehr in Hinsicht auf seine allseitige Verwendbarkeit und in Absicht auf die Umkehrung so geformt worden. Und dennoch fesselt es denjenigen, der es immer wieder hört. Es ist eine stille, ernste Welt, die es erschließt. Öd und starr, ohne Farbe, ohne Licht, ohne Bewegung liegt sie da; sie erfreut und zerstreut nicht; und dennoch kommt man nicht von ihr los.«
    Für Viktor war die Kunst der Fuge alles andere als »öd und starr«. In seinen Augen stellte sie einen Höhepunkt an Ästhetik und Kreativität dar. Denn gab es eine höhere Form der schöpferischen Tätigkeit als den Schaffensprozess innerhalb klar definierter Grenzen? Er wusste, dass er mit dieser Ansicht weitgehend allein stand, denn der Kulturbetrieb verstand unter Kreativität genau das Gegenteil: das Durchbrechen von Grenzen, das Ungeordnete, das Chaos.
    Wozu das führte, demonstrierte die Stadt in diesen Tagen mehr als deutlich. Die Hauptausfallstraße, die um diese Stunde üblicherweise frei war, wurde von hupenden Fahrzeugen blockiert, die in Fünferreihen nebeneinander ihre Verbrennungsgase ausstießen. Viktor runzelte die Stirn. Es waren noch fünf Wochen bis zur Eröffnung der Weltausstellung, und mit jedem Tag nahmen die Störungen des Straßenverkehrs zu.
    Die Stadtverwaltung war nicht in der Lage, darauf angemessen zu reagieren. Sie veröffentlichte von Hilflosigkeit geprägte Aufrufe an die Bürger, den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, aber niemand folgte dieser Aufforderung. So wurden die Straßen von Tag zu Tag voller, und irgendwo gab es immer eine Baustelle oder einen Schwertransport.
    Ein hämisch grinsender Radfahrer drückte sich an Viktors Jaguar vorbei und verschwand im Pulk der Fahrzeuge. Viktor warf einen Blick in den Rückspiegel. Ein Umkehren war unmöglich, denn inzwischen hatten sich bereits weitere Fahrzeuge hinter ihm aufgestaut. Direkt an seiner Stoßstange hing ein Kleinwagen mit abgeblättertem Lack. Der Fahrer, ein dicker Mann mit fettigen schwarzen Haaren, die von der Stirn in gerader Linie nach hinten gekämmt waren, schlug seine fleischigen Hände in einem komplizierten Rhythmus gegen das Lenkrad.
    Viktor seufzte und stellte den Motor ab. Es sah nicht so aus, als würde er rechtzeitig in der Klinik sein können. Und das heute, an dem Tag, an dem er mehrere Bewerbungsgespräche hatte. Er zog sein Mobiltelefon hervor und drückte eine Kurzwahltaste. Während er auf die Verbindung wartete, sah er den Radfahrer, der ihn vorhin beinahe gestreift hätte, zurückkommen. Der höhnische Ausdruck war von seinem Gesicht
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