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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus
Autoren: Judith Lennox
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fuhr. Insgeheim machte sie das Spiel, das sie immer machte: ein Punkt, wenn er sie ansprach; zwei, wenn er sich erbot, ihre Schultasche zu tragen; drei, wenn er sie zu einer Tasse Tee einlud; und dicke fünf Punkte, wenn er sie aufforderte, mit ihm ins Kino zu gehen. Zehn für einen Kuß, und sie mußte immer lachen, wenn sie überlegte, wie viele Punkte sie für einen Heiratsantrag kassieren würde: der Verehrer in einem schmutzigen Dritte-Klasse-Wagen vor ihr auf den Knien – das wäre doch für jedes Mädchen auf einer kurzen Eisenbahnfahrt ein Triumph.
    Sie hatte noch nie einen Heiratsantrag bekommen; hatte in der Tat niemals mehr als zwei Punkte eingeheimst. Nicht, weil die Angebote nicht erfolgten, sondern weil Maia stets die Einladungen zum Tee, ins Kino, zu einem Spaziergang im Park ablehnte. Dem Mann, den sie kennenlernen wollte, würde sie nicht in einem Eisenbahnabteil dritter Klasse begegnen.
    Das Stück vom Bahnhof zu ihrem Elternhaus in der Hills Road ging sie zu Fuß. Sie konnte die lauten Stimmen ihrer Eltern schon hören, als sie den Schlüssel ins Schloß schob. Diese Stimmen – manchmal hysterisch, manchmal mürrisch – hatten früher einmal die Macht besessen, sie so zu ängstigen, daß sich ihr Magen zusammenkrampfte und sie sich mit dem Kissen über dem Kopf und den Fingern in den Ohren in ihrem Bett verkroch. Aber man gewöhnte sich an alles.
    Mr. und Mrs. Read waren im Wohnzimmer. Die Tür stand offen, und sie mußten sie gesehen haben, als sie vorüberging, aber sie nahmen mit keinem Wort von ihr Notiz. Zornige Worte folgten Maia, als sie die Treppe hinaufging. »Du hörst mir ja überhaupt nicht zu … genausogut könnte man gegen eine Wand reden … ob ich glücklich bin, ist dir doch völlig gleichgültig …« Die alte Leier: Der Streit stand also offensichtlich schon in voller Blüte, und sein spezifischer Anlaß war längst vergessen. Es blieben nur die Beleidigungen, die Tränen, das Schmollen. Bis zum Abendessen würde er vergessen sein.
    Maia schloß ihre Zimmertür hinter sich. Während sie ihr Nähkästchen aus dem Schrank holte, versuchte sie nicht daran zu denken, daß solche Worte in Wahrheit niemals vergessen wurden: sie nagten, sie höhlten langsam aus, sie zerstörten. Niemand brauchte ihr den Grund des Streits zu sagen. Ihre Eltern stritten immer um das gleiche. Geld, immer war es das Geld. Lydia Read gab es aus, während Jordan Reads Einkommen aus seinen Anlagen stetig schwand. Über dem ganzen Haus hing ein Hauch von Schäbigkeit; die oberen Räume wurden nicht mehr regelmäßig geputzt, und das Abendessen war, wenn nicht gerade Gäste kamen, einfacher und weniger reichlich als früher. Es machte Maia angst, den langsamen, gnadenlosen Verfall mit ansehen zu müssen, der sich in den Spinnweben zeigte, die sich in den Dienstbotenzimmern in der Mansarde ausbreiteten (seit dem Krieg hatten die Reads nur noch ein Dienstmädchen, das im Haus wohnte), und in den vielen kleinen, unangenehmen Einsparungen – das Zeitungsabonnement war gekündigt, sie aßen Hammel statt Rind und machten im Wohnzimmer nur Feuer, wenn Besuch da war. Aber nichts, was nach außen sichtbar war, dachte Maia, die sich daran gewöhnt hatte, zwei Leben zu führen. Ein sichtbares und ein geheimes.
    Maia zog ihre Strümpfe aus und fädelte die Nadel ein. Dann begann sie zu stopfen; mit winzigen, sorgfältigen Stichen. Sie stopfte schon Gestopftes, dachte sie, den schönen Mund zu einer Grimasse verzogen.
    Am folgenden Nachmittag vergoß Sally, das Mädchen, beim Tee die Milch. Als sie unter Zurücklassung eines großen dunklen Flecks auf dem Teppich gegangen war, sagte Lydia Read: »Wir müssen sie entlassen, Jordan. Sie ist unmöglich.«
    »Ja, wir müssen sie entlassen«, stimmte Jordan Read zu. »Aber nicht weil sie unmöglich ist.«
    Maia sah ihren Vater hastig an.
    »Wir müssen sie entlassen«, wiederholte Jordan, »weil wir sie nicht mehr bezahlen können.«
    »Sei nicht albern. Was zahlen wir dem Mädchen – sechzehn Pfund im Jahr?«
    Jordan Read antwortete nicht. Er stand aus seinem Sessel auf und ging hinaus. Lydia goß sich eine zweite Tasse Tee ein. Ihre Lippen und Nasenflügel waren weiß, und ihre Augen, das gleiche helle Saphirblau wie die Maias, waren schmal geworden.
    Als Jordan Read wieder ins Wohnzimmer kam, warf er Lydia ein Bündel Papiere in den Schoß.
    »Lies das, Lydia. Dann wirst du sehen, daß wir uns nicht nur kein Mädchen mehr leisten können. Wir können auch deine
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