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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus
Autoren: Judith Lennox
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schüttelte den Kopf. Sie setzte sich auf das Sofa und klopfte auf den freien Platz neben sich. »Setzen Sie sich doch, Mr. Cummings. Ich habe Sie neulich abend im Klub spielen sehen. Eine phantastische Vorhand. Meine Vorhand ist einfach hoffnungslos.«
    Sie hatte ihn am Haken, sie wußte es. Es war ja so einfach. Man brauchte ihnen nur ins Auge zu sehen, sie anzulächeln und ihnen das Gefühl zu geben, sie seien groß und stark und tüchtig. Lionel Cummings war ein Narr.
    »Ich könnte Ihnen ein paar Stunden geben, Miss Read.«
    »Ach, das wäre wunderbar. Aber ich arbeite jetzt vormittags, wissen Sie, und nachmittags bin ich zu müde, um in den Klub zu gehen.«
    »Sie Arme! Sie sollten sich nicht überanstrengen, eine hübsche junge Frau wie Sie.«
    Sein Oberschenkel berührte den ihren, und sie konnte Whisky und Tabak in seinem Atem riechen. Ihren Ekel verbergend, stand Maia auf.
    »Vielleicht könnten Sie es mir jetzt zeigen, Mr. Cummings.«
    »Lionel. Nennen Sie mich Lionel.«
    »Lionel«, sagte Maia mit einem künstlichen Lächeln.
    Er hatte einen Arm um sie gelegt und hielt ihr Handgelenk mit seiner freien Hand umfaßt, als Lydia ins Zimmer kam. Sie hielt hörbar die Luft an, und ihr Blick verfinsterte sich. Lionel Cummings ließ Maia verlegen los.
    Maia fühlte sich mächtig in ihrer Rächerinnenrolle. »Mr. Cummings wollte mir nur helfen, meine Vorhand zu verbessern, Mami«, erklärte sie und setzte sich.
    Es bereitete ihr ein perverses Vergnügen, im Zimmer zu bleiben, unerwünschte Zeugin ihres schwülstigen Geredes. Immer wenn Lionel Cummings gerade nicht hersah, warf Lydia ihrer Tochter einen Blick zu, zog die Augenbrauen hoch und sah vielsagend zur Tür. Doch Maia blieb hartnäckig sitzen, zornig auf der Sofakante hin und her rutschend, die Finger an den Mund gedrückt.
    Schließlich sagte Lydia zuckersüß: »Mußt du nicht noch deine Stunden vorbereiten, Maia? Und ich dachte, du wolltest Sally beim Pudding helfen.«
    »Ich hab mich schon für die ganze Woche vorbereitet.« Maia schlug ihre langen Beine übereinander und ließ ihren Rock über die Knie hochrutschen. Lionel Cummings bekam Stielaugen. »Und du weißt doch, daß ich überhaupt nicht kochen kann, Mami.«
    Genau in dem Moment hörten sie es: einen kurzen, lauten Knall, bei dem die Nippes auf dem Kaminsims und die Gläser in der Vitrine klirrten.
    Lydia flüsterte: »O mein Gott« und stürmte aus dem Zimmer. Maia sprang auf, folgte aber nicht. In dem kurzen Augenblick zwischen dem Schuß und dem Schrei ihrer Mutter überfielen Furcht, Entsetzen und Schuldgefühl sie mit solcher Macht, daß die Farben der Wände sich zu Schwarz verdunkelten und die Streifen hellen Sonnenscheins auf dem Boden sich zu einem einzigen winzigen Lichtpunkt zusammenzogen. Die Hitze, die Dunkelheit des Zimmers, die Glut von Jugend und Sexualität verschmolzen mit dem Schrecken des plötzlichen Todes, so daß sie später eines nicht vom anderen trennen konnte. Als die Dunkelheit sich schließlich lichtete, lag sie auf dem Boden. Das Zimmer war leer, und die Schreie ihrer Mutter hallten durch das Haus.
    Nun begann alles zu zerfallen. Die Tage verloren ihre Struktur, die Grenzen zwischen Vormittagen, Nachmittagen und Abenden waren aufgehoben, so daß Maia oft die ganze Nacht hellwach lag oder bei Tag plötzlich einschlief. Freunde und Verwandte kamen, um Maia und ihrer Mutter im Wohnzimmer zu kondolieren. Aber manchmal konnte sie sich der Namen der Leute, mit denen sie gesprochen hatte, nicht erinnern, und immer konnte sie im taktvollen, ehrfürchtigen Gesäusel eine andere Stimme hören. Die Stimme ihres Vaters. »Tja, das wüßte ich auch gern. Ich könnte mir ja vielleicht eine Kugel durch den Kopf jagen?«
    Dennoch lautete das Urteil nach dem Leichenschauverfahren Tod durch Unfall. Jordan Read war dabeigewesen, die Gewehre zu reinigen, die er zur Jagd auf Wildenten benutzte, und dabei war es zu diesem tödlichen Unfall gekommen. Durch Geldsorgen abgelenkt, hatte er einen törichten und tödlichen Fehler begangen.
    Als Lydia Read an diesem ersten grauenvollen Nachmittag einen Moment mit ihrer Tochter allein gewesen war, hatte sie gezischt: »Erzähl keinem, was er gesagt hat. Bloß nicht!« Maia hatte sofort gewußt, wovon ihre Mutter sprach. Wie hypnotisiert vom funkelnden eisigen Blau der Augen ihrer Mutter, hatte sie stumm genickt. Aber sie hatte sowieso nie die Absicht gehabt, irgend jemandem – sei es Verwandten, Polizei oder Geschworenen – die Worte ihres
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