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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Heiligen. Die Menschen liebten und achteten ihr Leben. Sie hingen an ihrem Alltag, an den kleinen Dingen und billigen Genüssen, die das Leben bot, und wenn das Ende kam, dann starben sie eben mit traurigem und unruhigem Herzen. Zu der Zeit, als Herr Stern lebte, kam das Jenseits höchstens in den Spielen der Phantasie vor, seine Ungeheuer waren zahm geworden und lagen in den Winkeln der Seele wie Wachhunde neben dem Kamin. Tod und jenseitige Hoffnungen hatten ihre Anziehungskraft verloren, weil das Alltagsleben zunehmend bequemer und erträglicher wurde. Folglich hatte auch die geistliche Berufung keine Anziehungskraft mehr. Die Menschen hatten zwar Respekt vor den Heiligen, errichteten ihnen manchmal Denkmäler, benannten Straßen und Hügel nach ihnen, hielten jedoch in der Tiefe ihrer Herzen gerade sie für Ungeheuer. Nur sprachen sie eben kaum darüber.
    Herr Stern lebte allein, er war ein rotwangiger, zur Körperfülle neigender Mann mittleren Alters bar jeder abstoßenden Eigenschaft. Er hatte keine Feinde, dafür waren seine Freunde um so zahlreicher. Herr Stern verstand es, Gegensätze zu versöhnen, manchmal zeigte er sich praktisch begabt wie ein Bankier, ein andermal feinsinnig wie ein Poet. Er war ein gebildeter, taktvoller und seriöser Mensch, der gerne Anekdoten aus alten Zeiten erzählte, zugleich brachte er der Zukunft großes Interesse entgegen. Herr Stern lieb
te eine Zigarre am Nachmittag und dunkles Bier, Pflaumenschnaps mochte er auch, wiewohl niemand je erlebt hatte, daß ihm der Alkohol nicht bekommen wäre. Sonntags verzehrte er im Gasthaus des Städtchens Kutteln oder schwere Keulen mit großen Weißbrotscheiben. Dabei fand sich immer jemand, der ihm Gesellschaft leistete. Herr Stern sprach, antwortete dann mit aufmerksamen Fragen, sprach erneut, und gewöhnlich bemerkte sein Sitznachbar erst, wenn Herr Stern sich bereits mit einer Zigarre zu schaffen machte und dem Kellner winkte, den blankgeputzten Teller abzuräumen, daß dieser sein reichhaltiges Mahl beendet hatte. Herr Stern wußte viel, doch wirkte sein Wissen nicht überheblich, noch brachte es die Menschen in Verlegenheit. In regionalen Angelegenheiten fragten ihn wissenschaftliche Gesellschaften, Mitglieder von Akademien oder ausländische Professoren häufig nach seiner Meinung. Alles in allem war Herr Stern eine lokale Autorität, eine geistige Notabilität. Genau ein Jahr vor dem Beginn seines Leidensweges entschloß er sich, all das Wissen, daß sich in seinem Kopf und in seiner Schreibtischlade angesammelt hatte, in eine eindrucksvolle Vortragsreihe zu fassen, sozusagen auf den Blättern der Zeit zu verewigen, auf denen dann alle seine Worte strahlen sollten wie die Sterne am Firmament. Er werde jeden Monat einen Vortrag halten, verkündete Herr Stern, und zwar über solch interessante Themenbereiche wie Liebe, Schuld, Gnade, Mitgefühl oder Zweck, Richtung und Sinn des Lebens. Wie erwartet, wurden diese Vorträge in der Stadt außerordentlich populär. Der Konzertsaal des örtlichen Symphonieorchesters war stets brechend voll, unter den Zuhörern gab es viele fremde Gesichter, Reporter, Kritiker und Schriftsteller, namhafte Wissenschaftler aus der Hauptstadt gaben
sich die Ehre, und es grenzte an ein Wunder, daß fast alle mit den Vorträgen zufrieden waren und daß in den Nächten, wenn sich die Prominenz im Kasino der Stadt versammelte, um Herrn Sterns Gedanken zu erörtern und weiterzuführen, von den für Geistesmenschen so typischen Eifersüchteleien und Kritteleien keine Spur zu bemerken war. Nach dem Vortrag über die Liebe beispielsweise drückte jeder einzelne Zuhörer dem sichtlich bewegten, verlegen errötenden Herrn Stern die Hand. Man könnte auch sagen, der Erfolg reichte bis zum Himmel. So kam nach elf großartigen Vorlesungen der letzte Monat, der Dezember, und Herr Stern wählte als Titel seines Vortrags ein einziges Wort: Gott. Auch jetzt war der Saal gerammelt voll. Immer mehr zusätzliche Stühle und Bänke mußten aus den Büros des Rathauses und aus der nahen Kaserne herbeigeschafft werden, denn die Honoratioren betrachteten ihr Erscheinen als Pflicht, so wie es sich auch gehört, zum Begräbnis und zur Hochzeit eines berühmten Mannes zu erscheinen. Doch dieser letzte Vortrag fiel höchst seltsam aus. An diesem Abend, nur wenige Tage vor dem weihnachtlichen Kerzenschein, kam Herrn Stern der Name Gottes kein einziges Mal über die Lippen, obwohl Gott doch das Thema war. Er sprach immer nur von »ihm«
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