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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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oder »jenem«, oder er sagte »ebender«, dabei unternahm er sichtlich übermenschliche Anstrengungen, seine sonst so angenehme und ruhige Rede stockte, sein verlegener Blick irrte im Saal umher, schwere Schweißtropfen liefen ihm übers Gesicht. Das Auditorium lauschte höflich, kein Mucks war zu hören, dennoch war offensichtlich, daß etwas mit Herrn Stern geschehen war, er war erkrankt, oder ungewohnte Übelkeit hatte ihn befallen. Was für ein Pech, ausgerechnet an diesem Tag, an dem
er gleichsam das Tüpfelchen auf das i hätte setzen, die Früchte seiner Anstrengungen hätte ernten sollen. Ungeachtet dieses unangenehmen Eindrucks hätte Herr Stern nach dem Vortrag reichlich Gratulationen und Glückwünsche einheimsen können. Er aber eilte vom Katheder, seine Brille putzend, und verließ den Saal, ohne Abschied, mit gesenktem Kopf, ohne nach links oder rechts zu blicken. Lange herrschte Stille. Dann begannen sich die Leute verlegen von den Stühlen zu erheben und gingen mit unruhigen Gedanken nach Hause. An diesem Abend blieb der Umsatz des Kasinos ungewöhnlich gering.
    Der arme Herr Stern sei erkrankt, wurde schon am nächsten Tag in der Stadt verbreitet, und er, als wollte er dem Gerede recht geben, schloß sich nach dem Vorfall zu Hause ein. Tagelang ließ er niemanden zu sich und gab damit den absurdesten Klatschereien Nahrung. Wenn ihn jemand aufsuchte, antwortete er nur mit matter Stimme durch die Tür, man möge ihn zufriedenlassen und nicht belästigen, er wolle jetzt allein sein. Die Einheimischen überlegten bereits, ob sie sich gewaltsam Zutritt verschaffen sollten, denn es ginge doch nicht an, daß die Gesundheit eines so eminenten Geistes, einer solch edlen Seele wegen irgendeiner aberwitzigen Dummheit in Gefahr gerate, da kam Herr Stern dieser zweifellos wohlmeinenden, nichtsdestoweniger drastischen Maßnahme gerade noch zuvor, indem er nach dem Rechtsanwalt Czernisewsky schickte, der sein Jugendfreund war und ihm am nächsten stand. Herr Czernisewsky begab sich unverzüglich zu Herrn Stern. Offen gesagt hatte er schon ungeduldig auf die Einladung gewartet. In Herrn Sterns Wohnung wurde er von eklatanter Unordnung empfangen. Überall lagen ramponierte Bücher, No
tizzettel und herausgerissene Buchseiten herum. Hier eine verschlissene Bibel, dort ein zerfledderter, ledergebundener Homer, daneben ein verknautschter Dante, und natürlich die verschiedensten wissenschaftlichen Werke, die Ideen von Montaigne und Luther, die Anatomie von Leonardo da Vinci, die Theorie des Lichts von Huygens, die Berechnungen Newtons und sonstige Bücher, alles in einem fürchterlichen Wirrwarr. Auch Rechtsanwalt Czernisewsky war ein belesener, ernsthaft denkender Mann, deshalb erfaßte er auf der Stelle, daß die Bücher und Aufzeichnungen, gleich ihrem Besitzer natürlich, in den vergangenen Tagen Außerordentliches durchgemacht hatten. Etwas sehr Ernstes, Bemerkenswertes war geschehen. Herr Stern war unrasiert, seine Hände zitterten, als würde kalter Wind in seinem Körper wehen. Aber woran litt er, sann Rechtsanwalt Czernisewsky, während sein Blick auf dem Freund ruhte. Was war es, das ihm derart zusetzte? Was für eine paradoxe, heimtückische Krankheit hatte ihn befallen? Rechtsanwalt Czernisewsky hatte Herrn Stern noch nie in einem so kläglichen Zustand erlebt. Leise hüstelnd fragte er, was er für ihn tun könne, und setzte noch hinzu, daß er ihm gerne aushelfen würde, falls Herr Stern in finanzielle Schwierigkeiten geraten sei. Doch Herr Stern winkte nur zerstreut ab und bat Herrn Czernisewsky mit schwacher Stimme, Platz zu nehmen, er wolle ihm eine absurde Geschichte erzählen. Neugierig ließ sich Rechtsanwalt Czernisewsky in Herrn Sterns Lieblingssessel nieder und blickte seinen Freund erwartungsvoll an. Er zündete sich eine Zigarette an, natürlich hielt er sein silbernes Zigarettenetui auch Herrn Stern hin, dieser schüttelte jedoch nur ungeduldig den Kopf und begann mit seinem wahrhaft seltsamen Be
richt. Seine sogenannten Probleme, erklärte Herr Stern, hätten tatsächlich am Abend des letzten Vortrags, als er …, und hier verstumme er wieder, während ein schmerzliches Lächeln auf seinem Gesicht erschien, … nun, als er »über ihn« habe vortragen wollen, doch seit jenem Abend sehe er sich außerstande, seinen Namen auszusprechen oder niederzuschreiben, das Wort habe ihn ganz einfach verlassen. Einen Vortrag, eine Rede »über ihn« zu halten, ohne seinen Namen auch nur einmal
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