Das wilde Leben
Wörtchen »du« nicht mehr aussprechen. Direktor Kolovits erhob seinen Stock, ließ ihn aber wieder sinken. Als sei ihm erst jetzt zu Bewußtsein gekommen, daß Herr Stern gut einen Kopf größer war als er.
Er bist wirklich ein Stück Scheiße, sagte Herr Stern noch einmal und harrte mit offenem, kindlichem Blick der Konsequenzen. Doch Direktor Kolovits wagte sich nicht zu rühren. Mit diesem Vorfall fand die Schullaufbahn von Herrn Stern ihr Ende. Nachdem er von der Schule geflogen war, begann Herr Stern, auf den Straßen der Stadt spazierenzugehen und sich umzusehen. Anfangs machte er einen völlig harmlosen Eindruck. Sein Gesicht hatte etwas beinahe Gütiges, er wirkte sanft wie ein lieber alter Opa. Wenn er aber ein junges Mädchen oder einen kleinen Jungen erblickte, trat er sogleich zu ihnen hin und flüsterte ihnen irgendeine Abscheulichkeit ins Ohr. Die Kinder wurden rot bis unter die Haarwurzeln und brachen in bitterliches Schluchzen aus. Zum Repertoire des Herrn Stern gehörten Wörter für verschiedene tierische Geschlechtsorgane, erschreckende, grausame Todesarten und haarsträubende Jenseitsvorstellungen. Herr Stern hatte sich zweifellos schuldig gemacht, aber die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen erwiesen sich mitunter doch als übertrieben und ungerechtfertigt. Die Frau eines Teppichhändlers suchte Gendarmeriehauptmann Brünn mit der Beschuldigung auf, Herr Stern habe bei ihren nachmittäglichen Spaziergängen ihrer fünfjährigen Tochter mehrmals ein fürchterliches Wort ins Ohr geflüstert, nämlich … sie bringe es kaum
über die Lippen, zögerte die Frau des Teppichhändlers, aber sie müsse es ja doch tun, wenn auch wirklich nicht gern, sie werde dieses Wort also jetzt sagen, und nun holte sie tief Luft und sagte tatsächlich »Hundefut«.
Hundefut? fragte Hauptmann Brünn leise.
Hundefut, sagte die Frau des Teppichhändlers und schlug die Augen nieder.
Die absurde Anschuldigung wurde durch die Zeugenaussage Rechtsanwalt Czernisewskys hinfällig, der unwiderlegbar bewies, daß wenn Herr Stern seit Monaten außerstande sei, das Wort »Hund« auszusprechen, es sich mit »Hundefut« nicht anders verhalten könne, folglich behaupte die verehrte Frau des Herrn Teppichhändlers die Unwahrheit oder irre sich zumindest. Die lügnerische Frau des Teppichhändlers war vor aller Öffentlichkeit blamiert, doch das änderte an der verzweifelten Lage von Herrn Stern nicht das Geringste. An einem verregneten Novembernachmittag mußte er auch aus der Kirche verbannt werden. Offensichtlich hatte Herr Stern das Gotteshaus betreten, um zu beten, doch vergebens faltete er die Hände, vergebens kniete er vor dem Kreuz, er brachte nur vollkommen zusammenhanglose Worte und Sätze hervor, sinnvolle und sinnlose, die aber keinesfalls in ein Gebet paßten. Pater Theodor duldete das Gefasel eine Zeitlang, als aber Herr Stern schluchzend das Kruzifix umarmte und unsern Herrn Jesus Christus mehrmals mit dem Wort »Gasofen« bedachte, »Gasofen, Gasofen«, da forderte er Herrn Stern mit energischer Stimme auf, das Haus Gottes zu verlassen. Herr Stern starrte Pater Theodor mit verschleiertem Blick ins Gesicht, um dann ohne ein weiteres Wort aus der Kirche zu taumeln. Es folgten, wenn das noch möglich war, noch skandalösere
Ereignisse. Noch konnte Herr Stern die Bezeichnungen für die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane aussprechen, und er sprach sie nicht nur aus, sondern schrie, durch die Stadt spazierend, ihre häßlichsten, vulgärsten Varianten. Zum Beispiel wurde Emilia Pekár, die kämpferische Sekretärin des örtlichen Frauenvereins, eines Morgens davon geweckt, daß Herr Stern unter ihrem Fenster den allerunflätigsten Kraftausdruck für das männliche Geschlechtsteil brüllte, eine unsäglich abscheuliche und dreckige Vokabel, die Emilia Pekár zwar noch nie gehört hatte, wo hätte sie sie auch hören sollen, dennoch wußte sie sofort, denn sie mußte es ja wissen, was das für ein Ding war, das dieses barbarische Wort bedeutete. Die Situation wurde unerträglich. Vergeblich ergriff Rechtsanwalt Czernisewsky erneut Partei für seinen Freund, indem er vorbrachte, daß Herr Stern nie und nimmer einen Skandal habe provozieren wollen, er wiederhole diese Wörter einzig und allein, um sie nicht zu verlieren, in Wirklichkeit klammere er sich an sie, und das sei der tragische Kampf eines zu allem entschlossenen, verzweifelten Mannes, und nicht der Zeitvertreib eines Skandalmachers oder Satyrs. Es half
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