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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Gosse. Sein ungepflegter Bart hing in Zotteln herab, er stank, die Nächte verbrachte er in Toreinfahrten, unter Arkaden und Brücken. Grausame Menschen banden ihn für Tage an einen Baum am Stadtrand und hetzten Hunde auf ihn. Rechtsanwalt Czernisewsky fand ihn im letzten Moment. Fast wäre er an den Quälereien gestorben. Wochenlang hütete er im Hause von Rechtsanwalt Czernisewsky das Bett. Denn Rechtsanwalt Czernisewsky gab nicht auf. Er war der Meinung, für einen echten Freund müsse man bis zum Äußersten gehen, selbst dann, wenn dieser ihn einmal Emmanuel Negris hatte nennen wollen. So stellte er für Herrn Stern eine Krankenschwester ein, die ihn aufpäppelte und Körper und Geist des Kranken einigermaßen wiederherstellte.
    Diesem sorgsamen Bemühen war es zu danken, daß die
Wärme der Hoffnung wieder in Herrn Sterns Seele Einzug hielt, und eines Tages wandte er sich mit der Bitte an seinen Freund, daß er gerne zur Schule gehen würde. Herr Czernisewsky leitete auch das in die Wege, was nicht leicht war, da Herr Kolovits, der Direktor der örtlichen Schule, das Verhalten des Herrn Stern seit der Hinrichtung des Schaustellers Ress mit entschiedener Abneigung verfolgte. Dank der hartnäckigen Fürsprache von Herrn Czernisewsky nahm er ihn trotzdem in die erste Klasse auf, die er selbst unterrichtete. Herr Direktor Kolovits liebte nichts so sehr, wie vor unschuldigen und neugierigen Kinderblicken das Einmaleins zu erklären. Die Pädagogik betrachtete er als die eigentlich höchste künstlerische Tätigkeit, die schönsten künstlerischen und wissenschaftlichen Bemühungen seien nämlich ohne seine effiziente Hilfe zu nichts nütze, denn wer verstünde schon, sagen wir, die Schönheit der Mona Lisa oder einer Frühlingswiese oder gar die Wahrheit Newtons, wenn nicht er, Direktor Kolovits, zwischen den höchsten und den einfacheren Regionen des Verstandes vermitteln und damit von Jahr zu Jahr den Beweis erbringen würde, daß die Welt nicht nur schön sei, sondern ihre Schönheit auch in Besitz genommen werden könne. Herr Stern ging also von Herbst an zur Schule. Und er unternahm in der bekanntlich grausamen Welt der Kinder riesige Anstrengungen. Er saß auf der engen, unbequemen Eselsbank, sein Pausenbrot teilte er regelmäßig mit den stärksten Kindern, manchen trug er den Ranzen, überbrachte sogar Liebesbotschaften, doch all diese Bemühungen erwiesen sich als unzureichend. Herrn Sterns Hausaufgaben waren unvollständig und verworren. Direktor Kolovits stellte Herrn Stern mehrmals vor seinen Kameraden bloß, die sich daran er
götzten. Dann wurde Herr Stern rot bis über die Ohren, aber er nahm es hin. Er duldete mit gesenktem Kopf, daß sein Heft in die Ecke geschleudert wurde. Er duldete, daß man sein Stottern höhnisch nachäffte. Er duldete, daß er aus dem Klassenzimmer gewiesen wurde, er duldete, daß man ihn wieder hereinholte und erneut hinauswies. Er duldete, weil er fest entschlossen war, wieder richtig sprechen zu lernen, seine Sünden wiedergutzumachen, wieder ein ordentlicher Mensch zu werden, wie jeder andere auf dieser Welt. Er duldete, um den Namen Gottes und die Wörter Gurke, Hund und Odysseus wieder aussprechen zu können. Und vielleicht würde er einmal auch den Namen von Rechtsanwalt Czernisewsky, den er bei sich Emmanuel Negris nennen mußte, wieder sagen können. Aber es gab auch Momente, in denen sein altes Ich hervorbrach. Dann glänzte er mit der Demonstration der kompliziertesten Newtonschen Berechnungen. Statt der Regeln des Dividierens erklärte er stotternd den strukturellen Aufbau der Pyramiden. Als er einen Aufsatz über seine im übrigen längst verstorbene Mutter hätte vortragen sollen, begann er mit verklärtem Gesicht über die industrielle Revolution in England zu referieren. Und einmal erklärte er anstelle der wichtigsten Gartenpflanzen Platons Theorie von den Kugelwesen. In solchen Fällen geriet Direktor Kolovits in Wut und züchtigte ihn mit seinem Stock, während Herr Stern mit Tränen in den Augen seine Hände hinhielt und sichtlich bemüht war, das Einmaleins aufzusagen. Ein vergebliches Bemühen. Herr Stern mußte aus der Schule entfernt werden. An einem warmen Tag Ende Oktober, als sein Schönschreibheft wieder in die Ecke geflogen war, preßte sich Herr Stern langsam aus seiner Bank und baute sich vor Direktor Kolovits auf.
    Er bist ein Stück Scheiße, sagte er zu ihm und sah ihm scharf in die Augen.
    In diesem Moment konnte Herr Stern auch das

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